Junge Forschung

Kredit im Mittelalter: Geldgeschäfte an der Schank

„Die Archivarbeit mit Originaltexten bereitet mir bis heute die meiste Freude“, sagt Mittelalterforscher Stephan Nicolussi-Köhler.
„Die Archivarbeit mit Originaltexten bereitet mir bis heute die meiste Freude“, sagt Mittelalterforscher Stephan Nicolussi-Köhler.Thomas Steinlechner
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Zu welchen Zwecken brauchten Menschen im Mittelalter einen Kredit und wie kamen sie daran? Das untersucht der Historiker Stephan Nicolussi-Köhler in seiner Forschung.

Heute gilt der Zugang zu Krediten als eine der Grundvoraussetzungen für Wirtschaftswachstum. Im Mittelalter allerdings hatte man von dem abstrakten Konstrukt eines „freien Markts“ noch keine Vorstellung. Ein institutionalisiertes Banken- und Kreditwesen gab es nicht. „Dennoch hat Europa ab dem Mittelalter eine enorme wirtschaftliche Wachstumsphase durchlebt“, sagt Stephan Nicolussi-Köhler. Der 36-Jährige ist Assistenzprofessor am Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie der Uni Innsbruck. Den scheinbaren Widerspruch erklärt er so: „Damals haben Männer und Frauen durchaus Finanzdienstleistungen angeboten, aber meist auf informelle Art. Dass beispielsweise Notare oder Kaufleute nebenbei Geld verliehen und Gastwirte Dreh- und Angelpunkt mittelalterlicher Kreditgeschäfte waren, übersieht man leicht, wenn man heutige ökonomische Maßstäbe anlegt.“

Vergangenem Leben nachspüren

Nicolussi-Köhler interessieren die wirtschafts- und sozialhistorischen Fragen des Mittelalters, weil sie das pulsierende Leben in dieser Zeit spiegeln. Geld als solches betrachtete der mittelalterliche Mensch zwar mit ganz anderen Augen als der moderne, doch selbstverständlich war der Austausch von Gütern ebenfalls Teil seines Alltags. Veränderte sich etwa die Form der Abgaben an den Grundherrn von Naturalien in Geld, wie es rund um 1300 üblich wurde, so konnte das bei hohen Lebensmittelpreisen einen günstigen Einfluss auf das bäuerliche Einkommen haben. Umgekehrt wurden durch derartige Entwicklungen die Einkünfte der Grundbesitzer geschmälert. „Solche Prozesse zu untersuchen und ihre Kausalitäten herzustellen ist spannend.“ Schon als Kind habe er sich beim Anblick alter Gebäude gefragt, wie Menschen in früheren Zeiten gelebt haben, erzählt der Wiener. Und während seines Geschichtsstudiums an der Uni Wien habe er gemeinsam mit seinem Bruder, einem Künstler und Kunsthistoriker, alte Kulturregionen Europas durchwandert. „Das hat die Faszination für mein Fach noch verstärkt.“ Ob von Saint-Jean-Pied-de-Port an der französisch-spanischen Grenze bis Santiago de Compostela oder entlang der Via Francigena vom schweizerischen Lausanne nach Rom: „Schauplätze seiner Forschung aus eigener Anschauung zu kennen macht einen Unterschied.“

Mit einem Studienaufenthalt in Frankreich in den Archiven von Marseille kam noch die Freude an der methodischen Arbeit mit originalen mittelalterlichen Quellen hinzu. „Das ist wie ein Puzzle mit vielen verloren gegangenen Teilen. Zuerst versucht man, die vorhandenen Stücke in ihre ursprüngliche Position zu bringen, dann überlegt man sich anhand der rekonstruierten Fragmente, wie das gesamte Bild ausgesehen haben könnte.“ Dieses Training in Geduld und Kreativität kommt auch Nicolussi-Köhlers Forschungsfokus, den „unteren 99 Prozent der Gesellschaft“, zugute. „Was von der Vergangenheit erhalten bleibt, ist oft eine Machtfrage. Wir haben deutlich mehr Kenntnis von der Kultur des Adels als von den unteren Schichten.“ Darum müsse man hier den Blick auf andere Quellen richten. In seinem aktuellen Projekt zu den Kreditgewohnheiten im 13. und 14. Jahrhundert im Alpenraum etwa auf Inventare, Notariatsregister oder Gerichtsprotokolle. So untersucht er, welcher Bedarf an finanziellen Dienstleistungen – wie z. B. Krediten, Ansparungen oder Altersvorsorge – bestand und wie man ihn bedienen konnte.

Vor Kurzem wurde der Historiker für sein Buch „Marseille, Montpellier und das Mittelmeer“ zum südfranzösischen Fernhandel im 12. und 13. Jahrhundert von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften mit dem Jubiläumspreis des Böhlau-Verlags ausgezeichnet. Inhalt ist seine Dissertation, die er 2018 an der Uni Mannheim abschloss. „Ein Ansporn für weitere hochklassige Forschung.“ Bei den oft langwierigen Projektarbeiten motivieren ihn kollegiale Fachdiskussionen. Auch seine Familie, die seine Berufswahl stets unterstützt habe, und seine Frau seien ein großer Rückhalt. „Die Natur in Tirol bietet mir zudem einen guten Ausgleich zur Schreibtischarbeit.“

Zur Person

Stephan Nicolussi-Köhler (36) hat an der Uni Wien das Diplom- und an der Uni Mannheim (D) das Doktoratsstudium in Geschichtswissenschaften absolviert. Nach der Promotion 2018 blieb er dort bis 2021 als Projektkoordinator am Lehrstuhl für mittelalterliche Geschichte, 2022 wechselte er als Assistenzprofessor an die Uni Innsbruck. Sein Fokus sind mittelalterliche Gesellschaften Europas.

Alle Beiträge unter: www.diepresse.com/jungeforschung

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.04.2023)

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