Gastkommentar

Gibt es eine Alternative zur Festung Europa?

(c) Peter Kufner
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Der Strom von Millionen Menschen, die über das Mittelmeer nach Europa kommen wollen, wird nicht versiegen. Aber die Asyl- und Migrationsreform der EU stockt. Gefragt wäre ein wenig Fantasie für alternative Lösungen.

DER AUTOR

Hannes Tretter (*1951 in Wien) ist außerordentlicher Univ.-Prof. i.R. für Grund- und Menschenrechte an der Universität Wien. Er ist Co-Gründer und ehemaliger wissenschaftlicher Co-Leiter des Ludwig Boltzmann Instituts für Menschenrechte (BIM) in Wien sowie Vorstandsvorsitzender des Wiener Forums für Demokratie und Menschenrechte.

Oliver Grimm und Christian Ultsch („Die Presse“, 10. und 12. März) haben es auf den Punkt gebracht. Aufgrund unterschiedlicher Interessenlagen finden die EU-Staaten keinen Konsens für eine Reform des Asyl- und Migrationsrechts, die über die wenig erfolgversprechende Idee einer mit Grenzzäunen sowie Frontex-Schiffen und -drohnen im Mittelmeer bewehrten „Festung Europa“ hinausgeht.

Neuerdings ist von Auffanglagern mit rascher Prüfung von Asylberechtigungen und von Rückführungsabkommen mit Herkunftsstaaten die Rede. Selbst dann wird sich an der bisherigen Situation kaum etwas ändern, da die Hoffnung auf ein besseres Leben in Europa und Schlepperei dafür sorgen werden, Umgehungsmöglichkeiten zu schaffen. Womit die Dramen bei Überfahrten im Mittelmeer Ertrunkener kein Ende nehmen werden.

Fokus auf das Humankapital

Nach sozioökonomischen Schätzungen ist – jeweils auch abhängig von aktuellen politischen, wirtschaftlichen und klimatischen Entwicklungen – davon auszugehen, dass weiterhin Millionen Menschen über das Mittelmeer nach Europa wollen, wobei ein Großteil aus dem Nahen und Mittleren Osten sowie aus Nordafrika und der Sahelzone stammen wird. Also wäre ein wenig Fantasie für alternative Lösungen gefragt, die für die betroffenen Menschen, die EU und deren angrenzende Staaten, insbesondere Nordafrikas und des Nahen Ostens, eine „Win-win-win-Situation“ eröffnen könnten.

Als möglicher Zugang wurde bereits mehrfach vorgeschlagen, den Fokus auf das Humankapital der Menschen zu legen, die nach Europa wollen. Das Ziel sollte also nicht eine Abschottung Europas und das Verhindern jeglicher Migration sein, sondern das Erkennen und Erforschen von Potenzialen, die zu einem fruchtbaren Austausch von Ressourcen und Arbeitskräften führen könnten.

Da gibt es etwa das Cotonou-Abkommen der EU 2000-2020, das den rechtlichen Rahmen für die Beziehungen der EU, unter anderem zu Staaten in Afrika, bildet und 2022 bis zum 30. Juni 2023 verlängert wurde. Die drei Säulen, auf die sich das Abkommen stützt, sind die Entwicklungszusammenarbeit, die wirtschaftliche und handelspolitische Zusammenarbeit sowie die Einbeziehung der politischen Dimension. Oder die „Gemeinsame Strategie Afrika-EU“, die 2007 zwischen der Afrikanischen Union und der EU sowie afrikanischen und EU-Staaten ins Leben gerufen wurde.

Zudem startete die EU-Kommission am 11. Juni 2021 die Initiative „Talentpartnerschaften“, die auf dem „Neuen Pakt für Migration und Asyl“ 2020 beruht und darauf abzielt, den Fachkräftemangel in der EU zu beheben und die Beziehungen zu Drittländern durch „für beide Seiten vorteilhafte Partnerschaften“ zu stärken.

Alternativen zur Migration

Die ersten Talentpartnerschaften wurden Ende 2022 u.a. mit Ägypten, Marokko und Tunesien ins Leben gerufen. Und am EU-Gipfel vom 23./24. März forderte Kommissionspräsidentin von der Leyen unter anderem, legale Möglichkeiten der Zuwanderung sowohl für schutzbedürftige Menschen als auch für Arbeitsmigranten zu schaffen, für deren Aufnahme und die Errichtung humanitärer Korridore bis 2025 480 Millionen Euro zur Verfügung stehen sollen. Diese Ansätze werden aber nicht reichen, um die Probleme dauer- und vorteilhaft in den Griff zu bekommen. Zu lange waren das Mittelmeer und seine nichteuropäischen Anrainerstaaten – über Jahrtausende mitbestimmend für die Geschichte Europas (siehe nur David Abulafia, Das Mittelmeer, 2013) – nicht mehr im Fokus europäischer Politik. Das sollte sich ändern.

Mit entsprechender ökonomischer und fiskalischer Expertise und Umschichtung der für die Grenzsicherung zur Verfügung stehenden finanziellen Mitteln könnten Alternativen zur Flucht und Migration nach Europa entwickelt werden. Sie sollen den betroffenen Menschen in den an das Mittelmeer grenzenden Staaten Nordafrikas und des Nahen Ostens Zukunftsperspektiven bieten.

Etwa, dass Flüchtlinge nicht bloß abgefangen, zurückgeschoben, ihrem Schicksal überlassen oder in Lagern festgehalten werden, sondern ein ganz anderes „Auffangen“ mit sozialer Sicherheit, Unterbringung sowie Ausbildung und Beschäftigung in Kooperativen vor Ort erfolgt. Von der EU (mit)finanzierte und kontrollierte Kooperativen, v.a. in den Bereichen Landwirtschaft, Handwerk sowie Solar- und Windenergie, wären auch für die aufnehmenden Staaten und die jeweilige Bevölkerung vor Ort mit ökonomischen Vorteilen verbunden.

Umschichtung der Mittel

Damit wäre aus Sicht dieser Staaten, der EU und der betroffenen Menschen eine „Win-Win-Win-Situation“ geschaffen, bei der auch geltende flüchtlingsrechtliche und menschenrechtliche Standards eingehalten werden könnten. Indem nämlich in den Orten der Kooperativen EU-Behörden Asylverfahren abwickeln und gut ausgebildeten Menschen die Möglichkeit eröffnet wird, Arbeits-Visa für einen EU-Staat zu erhalten, in den sie legal einreisen können.

Wie die Erfahrung zeigt, besitzen die meisten Flüchtlinge, die über die finanziellen Mittel verfügen, die Gestade des Mittelmeers zu erreichen, auch Handys, über die sie mittels sozialer Medien entsprechend informiert werden können. So könnten auch Schleppern weitgehend ihr „Handwerk gelegt“ und gefährdete Frauen und Kinder vor Versklavung und sexueller Ausbeutung geschützt werden.

Ließe sich diese Idee finanzieren? Für den Zeitraum 2021-2027 beläuft sich das EU-Budget für „Migration und Grenzmanagement“ auf 22,7 Milliarden Euro, wobei das Frontex-Budget auf elf Mrd. Euro aufgestockt wird, allein 2023 auf 845 Millionen Euro. Weiters werden die Kosten für die Satelliten- und Drohnen-Überwachungs- und Suchsysteme der EU auf rund zwei Mrd. Euro geschätzt.

Ein Lösung im Interesse aller

Allerdings darf bei einer Umschichtung der Finanzmittel die Sicherung der EU-Außengrenzen einschließlich des Einsatzes von Frontex nicht gänzlich aufgegeben werden, da es weiterhin zu illegaler Migration kommen wird, wenn auch in abgeschwächter Form. Dem gegenüber wären aber auch die Gewinne der Wirtschaftskooperativen und der Entfall der Kosten für die geplanten Auffanglager zu berücksichtigen.

Mitte 2023 wird das „Wiener Forum für Menschenrechte und Demokratie“ eine umfassende Studie zum Thema mit entsprechenden Empfehlungen vorlegen, die von einem juristischen und (sozio)ökonomischen Team erarbeitet wird. In der Hoffnung, dass die EU und ihre Mitgliedstaaten sowie die Mittelmeerländer Nordafrikas und des Nahen Ostens sich auf diese im gemeinsamen Interesse liegende Lösung einigen können – nicht zuletzt wegen der dramatisch geänderten politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, die durch den Krieg Russlands gegen die Ukraine ausgelöst wurden.

E-Mails an:debatte@diepresse.com

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.04.2023)

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