Osteuropas Gesellschaften laborieren an ihrer Vergangenheit. Die EU-Mitgliedschaft stellt die Osteuropäer nun vor die Aufgabe, ihre eigene Geschichte kritisch zu hinterfragen.
Brüssel. Der Diplomat muss schmunzeln. „Wenn sie wirklich hätten provozieren wollen“, sagt er im Gespräch mit der „Presse“ beim Betrachten des Teppichs mit der Europakarte aus dem Jahr 1848 im Brüsseler EU-Ratsgebäude, „dann hätten sie die Karte der Republik von Debrecen abgebildet.“
Im Jahr 1849 haben die Kämpfer für die Unabhängigkeit vom Haus Habsburg dem 18-jährigen neuen Kaiser Franz Joseph I. die ungarische Königskrone verweigert und am 14. April in Debrecen unter Führung von Lajos Kossuth die Loslösung von Österreich proklamiert. Kein halbes Jahr sollte diese magyarische Republik bestehen, ehe ihre Milizen von den habsburgischen Truppen und der eilig zu Hilfe gerufenen Armee des russischen Zaren Nikolaus I. in die Zange genommen und zerrieben wurden. Als die Habsburger in Arad dreizehn führende ungarische Offiziere hinrichten ließen (darunter übrigens auch einige deutscher Herkunft), stießen sie der Überlieferung nach beim Tod jedes einzelnen mit Bierkrügen an. Deshalb weigerten sich nationalistische Ungarn noch bis vor wenigen Jahren, mit Österreichern beim Bier anzustoßen.
Bloß ist auf dem Teppich der Budapester Künstlerin Lívia Pápai eben keine Karte aus 1849 zu sehen, sondern eine aus 1848. „Das hier ist nicht Großungarn“, sagt der Diplomat, er ist übrigens kein Ungar. „Das ist das Habsburgerreich zur damaligen Zeit.“
„Wer Probleme will, findet sie“
„Wenn die Leute Probleme finden wollen, können sie immer welche finden“, sagt Gergely Polner, der Sprecher der ungarischen EU-Botschaft in Brüssel zur „Presse“. Es sei jedenfalls nicht die Absicht der Regierung gewesen, Anspielungen auf großungarische Fantasien zu machen. Das Problem ist nur: Die ungarische Regierung unter dem Christdemokraten Viktor Orbán tut genau das immer wieder, indem sie Auslandsungarn die Staatsbürgerschaft anbietet oder das Gedenken an den Vertrag von Trianon, der Ungarn nach dem Ersten Weltkrieg zerteilte, zur Staatssache macht. Warum also die Karte von 1848? „Das war einer der stolzesten Momente für Ungarn, weil es gegen zwei Imperien aufgestanden ist“, sagt Polner.
Die Aufregung um diesen Teppich wirft ein Licht auf die Probleme, die Osteuropas Gesellschaften zwei Jahrzehnte nach dem Fall des Eisernen Vorhangs mit der Aufarbeitung ihrer Geschichte haben. Mangelnde Sachkenntnis – auch in Westeuropa – und lange unterdrückte nationalistische Reflexe vermengen sich zu einer Saat, die sich politisch missbrauchen lässt. Der heißblütige Auftritt Orbáns am Mittwoch im Europaparlament verdeutlichte das. Er nutzte die Kritik an seiner Medienpolitik, um sich als Verteidiger seines Volkes zu stilisieren (am Freitag hat die EU-Kommission Ungarn wie angekündigt schriftlich um Klärung einiger Rechtsfragen ersucht).
Auch andernorts im Osten nimmt man inhaltliche Kritik schnell persönlich. In Rumänien werden Stimmen laut, die den Austritt aus der Organisation der Französischsprachigkeit fordern, weil Frankreich Rumäniens Schengen-Beitritt blockiert.
Die EU-Mitgliedschaft stelle die Osteuropäer vor die Aufgabe, ihre eigene Geschichte kritisch zu hinterfragen, sagte Timothy Snyder, Professor für osteuropäische Geschichte an der Universität Yale, 2009 im „Presse“-Interview. „Die Geschichte, die die Osteuropäer bis 2004 der Welt erzählten, war eine von liberalen Demokratien, die von fremden Mächten zerstört wurden“, sagte Snyder. „Ohne die Nazis und die Kommunisten wäre folglich alles in Ordnung gewesen. Jetzt aber sind sie in der EU und müssen ihre Geschichte nicht mehr politisch korrekt erzählen.“
("Die Presse", Print-Ausgabe, 22. Jänner 2011)