Eine latente Unzufriedenheit weiter Teile der Bevölkerung ist in Europa derzeit schon zu spüren. Da ist es dann doch überraschend, was der World Happiness Report 2023 zu berichten hat. Mit einer Ausnahme an der Spitze.
Europa wird abgehängt. Es wird im Wettbewerb der großen Blöcke, die gerade entstehen, keine wichtige Rolle spielen. Das Bildungssystem ist marode, das Zusammenleben funktioniert so nicht mehr, der Kapitalismus hat ohnehin ausgedient. Seit Jahren schleppen wir uns von Krise zu Krise. Reformfähig sind die schwerfälligen europäischen Systeme ohnehin nur bedingt, wie uns die Auseinandersetzung um die Rente mit 64 in Frankreich zeigt. An der Grazer Uni stellen sich Wissenschaftler die Frage, wie gesund wir mit 150 noch sein können und die Franzosen streiten um die Rente mit 64. Europa hat ausgedient.
Jede Woche gestaltet die „Nationalökonomische Gesellschaft" (NOeG) in Kooperation mit der "Presse" einen Blog-Beitrag zu einem aktuellen ökonomischen Thema. Die NOeG ist ein gemeinnütziger Verein zur Förderung der Wirtschaftswissenschaften. Dieser Beitrag ist auch Teil des Defacto Blogs der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät an der Central European University (CEU). Die CEU ist seit 2019 in Wien ansässig.
Beiträge von externen Autoren müssen nicht der Meinung der „Presse"-Redaktion entsprechen.
In der Aufgeregtheit öffentlicher Diskussionen und in sozialen Medien sind solche Einschätzungen sehr präsent. Eine latente Unzufriedenheit weiter Teile der Bevölkerung, eine Spaltung und Sprachlosigkeit der Gesellschaften sind schon zu spüren. Da ist es dann schon überraschend, was der World Happiness Report 2023 zu berichten hat. Unter den ersten zehn Ländern sind acht Europäer. Israel (Platz 4) und Neuseeland (Platz 10) haben sich unter sieben nord- und westeuropäische Länder und die Schweiz gemischt. Österreich liegt auf Platz 11. Ganz vorn liegt Skandinavien mit Finnland an der Spitze. Das ist keine Momentaufnahme, kein Zufall: Finnland ist das sechste Mal nacheinander schon zum Land der glücklichsten Menschen erhoben worden.
Die Umfrage, die dem World Happiness Report zugrunde liegt, hat als ihren Kern eine ganz einfache Frage. Die beantwortende Person wird gebeten sich eine zehn-stufige Sprossenleiter vorzustellen, deren höchste Stufe zehn das bestmögliche Leben für die Person dargestellt, die unterste Stufe das schlechteste. Die Person wird dann gebeten, ihre eigene Position auf dieser Leiter anzugeben (Cantril ladder). Durch die „persönliche“ Leiter ergibt sich eine selbst-Verankerung jeder einzelnen Person. Eine Verzerrung zugunsten skandinavischer Länder oder allgemein europäischer kann ich nicht erkennen. Die Unterschiede in den Antworten der Befragten innerhalb eines Landes sind erstaunlich gering, was bezüglich des glücklich-Seins gegen eine übermäßige Spaltung spricht und es den Autoren erlaubt, nur in Länderdurchschnitten zu argumentieren. Das Maß, auf dem der World Happiness Report beruht, ist der Durchschnitt der Antworten aus einem Land. Die Auswahl der Befragten achtet auf Repräsentativität, versichern die Autoren.
Das ist ein Aggregat eines ganz subjektiven Maßes. Vom Gross Happiness Product, das unter Ökonomen als Ersatz des Bruttoinlandsprodukts (BIP) als Maß der aggregierten Leistung in einem Land vorgeschlagen wurde, ist dieses Maß weit entfernt. Natürlich erklärt das BIP einen Teil der Reihung, aber eben nur einen Teil. Andere, wie soziale Absicherung und eine funktionierende Gesellschaft sind auch wichtig, aber auch weichere Faktoren wie Lachen und die Abwesenheiten von Stress und Sorgen erklären Teile der Ergebnisse. Auf solche Einflüsse wurde in der „Corona-Ausgabe“ 2022 besonderen Wert gelegt. Die Autoren betonen, dass gegenseitige Hilfe in der Pandemie in allen Regionen an Bedeutung gewonnen hat.
Politischer Wechsel nur auf den ersten Blick paradox
Finnland ist nach Einschätzung im World Happiness Report gut durch die Corona-Krise gekommen. Es ist die darauffolgende Krise, den russischen Überfall auf die Ukraine, zielstrebig und bestimmt angegangen. Es hat die glücklichsten Menschen der Erde und eine sehr beliebte und charismatische Ministerpräsidentin. Vorletzten Sonntag haben sich die Finnen aber für einen politischen Wechsel entschieden. Das ist nur auf den ersten Blick paradox. Die Finnen haben ja nicht gewechselt, weil sie glücklich sind. Ein Teil ihres glücklich-Seins besteht aber darin, ganz selbstverständlich wechseln zu können. Ein Großteil des Zorns der Franzosen dagegen in ihrem Kampf gegen einen späteren Pensionsantritt ist in der Art begründet, in der diese Reform durchgeführt wurde. Die Demonstranten und die sie unterstützenden Teile der Gesellschaft haben nicht das Gefühl, dass ihnen vom Präsidenten zugehört wird. Zorn (Anger) ist auch eine der Emotionen, die im Zusammenhang mit der Happiness-Studie untersucht werden. Für mich überraschend hat der Zorn in der alten EU über die Jahre von niedrigem Niveau aus eher abgenommen. In Mittel- und Osteuropa hat Zorn ebenfalls an Bedeutung verloren (2022er Ausgabe des WHR). Zugenommen hat nach persönlichem Empfinden der Stress, im Westen wie im Osten des Kontinents.
Mittel- und Osteuropa ist im Aggregat als Region über die Jahre „glücklicher“ geworden. Unter den Top 10 Aufsteigern im Ranking zwischen 2008 und 2022 sind sechs Mittel- oder Osteuropäische Staaten. Unter den zehn Großregionen, die die Autoren des World Happiness Reports unterscheiden, hat Mittel- und Osteuropa die größten Verbesserungen erreicht. Noch gibt es deutliche Unterschiede, aber auch einiges an Annäherung zwischen Westeuropa und den Transformationsländern. Ganz so glücklich wie Ella und Pekka werden die Mittel- und Osteuropäer 2024 noch nicht sein, dafür sind die Einschätzungen persönlichen Glücks über die Zeit zu stabil. Wenn der Trend aber anhält, dauert es noch etwa eine Dekade, bis das Durchschnittsniveau von Westeuropa erreicht ist. Das ist ja auch schon etwas.
Der Autor
Jörn Kleinert, geb. 1970 in Berlin, ist Volkswirt mit einer Spezialisierung auf die Internationale Ökonomik und nach Stationen in Kiel und Tübingen seit 2010 Professor an der Universität Graz.
