Oper

Neue Oper Wien: Seelentauchgang mit der Nautilus

(c) Armin Bardel
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Kalitzkes „Kapitän Nemos Bibliothek“ über die Kindheit zweier vertauschter Buben ist szenisch manchmal etwas zu rätselhaft, fesselt aber musikalisch.

Je der bekommt seine Kindheit über den Kopf gestülpt wie einen Eimer. Später erst zeigt sich, was darin war. Aber ein ganzes Leben lang rinnt das an uns herunter . . .“ Diese Worte stammen zwar von Heimito von Doderer, sie drängen sich aber auf angesichts der haarsträubenden Geschichte, die Per Olov Enquist im Roman „Kapitän Nemos Bibliothek“ (1991) erzählt. Was tut es zwei Kindern und ihren Familien an, wenn sich herausstellt, dass sie als Neugeborene vertauscht wurden, und sie ab sofort bei ihren biologischen Eltern aufwachsen müssen? Der namenlose Ich-Erzähler kommt dadurch in ein ärmliches Zuhause mit psychisch schwer kranker Mutter, während sein Freund Johannes sein privilegiertes Leben übernimmt. Nemos Bibliothek ist ihr gemeinsam erträumter Zufluchtsort. Als die Buben zehn sind, bekommt Johannes eine Ziehschwester, die 16-jährige Eva-Lisa. Beide verlieben sich in sie, sie wird von irgendeinem Burschen schwanger. Johannes verrät Eva-Lisas Geheimnis der Mutter, die sie verstößt. Der Ich-Erzähler erlebt später hilflos mit, wie Eva-Lisa bei einer Fehlgeburt verblutet. Und auch die Freundschaft zu Johannes endet . . .

Psychedelisch-mythische Klänge

2022 wurde Johannes Kalitzkes Kammeroper nach Enquists Roman in Schwetzingen uraufgeführt, die Neue Oper Wien zeigt das Werk nun in einer Neuproduktion im Semperdepot: 100 pausenlose Minuten, die einen durchwegs am Lauschen, Grübeln, Kombinieren halten. Schon Julia Hochstenbachs radikal verknapptes Libretto mag das Verständnis erschweren; noch genauer aber muss man bei Simon Meusburgers Inszenierung aufpassen, um (vielleicht nur behauptete) Realität und Fantasie unterscheiden und in Beziehung setzen zu können. Oder aber man lässt sich gleich fallen in die mal albtraumhaften, dann wieder psychedelisch-mythischen Klangwelten: Schon der Beginn mit Glockentönen und Klopfgeräuschen zu einem irritiert zuckenden Kontrabassklarinettensolo, schneidenden Akkordeonklängen und schließlich einem verbeulten Choral der bigott-rückständigen Dorfgemeinschaft in Nordschweden soll das Überdeutlich-Bedrohliche repräsentieren, das die Welt für hellhörige Kinderohren bedeutet.

Die Partie des „Ich“ teilt Kalitzke einem Countertenor zu, den Johannes einer Sopranistin – wobei das Werkkonzept auch die Verdopplung der beiden Figuren mittels Puppen vorsieht. Ray Chenez und Ewelina Jurga treten also, beide tadellos intensiv in Gesang und Spiel, auch mit ihren früheren Inkarnationen in szenische Dialoge.Bühnen- und Kostümbildnerin Hana Ramujkic nützt die beschränkten bühnentechnischen Möglichkeiten des Spielorts gekonnt und stellt ein Miniaturdorf auf die Bühne, mit beweglichen Häusern nebst Kirche. Projektionen von Wasser wie Feuer schaffen Stimmung und Effekt. Wolfgang Resch schenkt dem überforderten Vater Sven berührende Töne; mit pastosem bis gruselig durchdringendem Mezzosopran verleiht Elena Suvorova beiden Müttern Profil. Misaki Morino macht die immer noch kindliche Eva-Lisa lebendig. Meusburger setzt noch eine stumme Rolle an die Rampe (Andrija Repec): den erwachsenen Ich-Erzähler, der parallel zur Handlung in einer alten Schachtel mit Erinnerungsstücken kramt.

Ein Miniaturdorf, Feuer, Wasser

Von Walter Kobéra mit Verve und Genauigkeit geleitet, klingt das diesmal zehnköpfige Amadeus Ensemble Wien nicht zuletzt durch die elektronischen Samples, die auch Geräusche und verzerrte Sprache einbringen, höchst reichhaltig und bunt: dunkel dräuend, bedrohlich, schmerzerfüllt, aber auch stimmungsvoll entrückt in den Nemo-Passagen. Vor allem den kindlichen Protagonisten verlangt Kalitzke im Gesang einiges an Höhe und sperrigen Linien ab und setzt den Text manchmal gegen die natürliche Wortbetonung ein: Verfremdungseffekte an einem von Rätseln durchdrungenen Musiktheaterabend. Denn könnte Johannes nicht auch eine abgekapselte, ausgelagerte Erinnerung des Ich-Erzählers sein, ein Teil seiner selbst, als kindliche Strategie der Traumabewältigung? Der Inhalt des Eimers rinnt weiter.

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