Analyse

Je weiter weg vom Tatort, desto ängstlicher die Twitter-User

Archivbild: Gedenken an die Opfer des Terroranschlages vom 2. November 2020 in der Wiener Innenstadt.
Archivbild: Gedenken an die Opfer des Terroranschlages vom 2. November 2020 in der Wiener Innenstadt. APA/HELMUT FOHRINGER
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Forscher fanden einen Zusammenhang zwischen dem Aufenthaltsort der User zum Zeitpunkt des Terroranschlags in Wien am 2. November 2020 und deren Ängstlichkeit.

Der Terroranschlag in der Wiener Innenstadt am 2. November 2020 hat auch auf Twitter viele Reaktionen hervorgerufen. Ein Wiener Forschungsteam hat diese über ein Jahr hinweg analysiert. Im Fachblatt "Online Social Networks and Media" berichten die Wissenschafter von der Wirtschaftsuniversität (WU) Wien u.a. über das überraschende Ergebnis, dass vor allem Ausdrücke von Ängstlichkeit häufiger waren, je weiter weg sich die Twitter-User vom Ort des Anschlags befanden.

Ema Kušen und Mark Strembeck vom Institut für Wirtschaftsinformatik und Neue Medien der WU Wien gehen seit einigen Jahren den Mechanismen der Online-Kommunikation anhand von für Forscher frei verfügbaren Daten der Plattform Twitter nach. Mit diesen Informationen eröffnen sich für Sozialforscher ganz neue Möglichkeiten. Im Fall des Wiener Terroranschlages konnten Kušen und Strembeck etwas über 500.000 Tweets identifizieren, die sich in etwa im Zeitraum eines Jahres auf die Attacke bezogen.

Bisher habe sich gezeigt, dass solche Ereignisse international erstaunlich ähnliche Online-Reaktionsmuster hervorrufen. Aufgrund der relativ wenigen Twitter-Nutzer hierzulande sei aber die absolute Anzahl an Tweets bei Anschlägen z.B. in den USA höher als jene zum Wien-Terror, erklärte Strembeck. Die Tweets teilten die Forscher in vier Zeitphasen ein: die Reaktionen kurz nach dem Anschlag bis zum Folgetag, dann jene im Zeitraum bis zu rund einer Woche, drei Monaten sowie einem Jahr danach. Aussortiert wurden durch sogenannte "Bots" generierte Nachrichten und Werbung, die die Ereignisse als Vehikel zur Verbreitung nutzten.

"Kann in New York wohnen und Familie in Wien haben"

Der sogenannten "Construal Level Theory" folgend ging man der Frage nach, wie sich die wahrgenommene Distanz zu einem Ereignis auswirkt - sowohl räumlich, zeitlich als auch sozial. "Man kann ja auch in New York wohnen und Familie in Wien haben. So kann selbst über eine große räumliche Distanz eine sehr geringe soziale Distanz zu einem Ereignis bestehen", erklärte Strembeck. Analysiert wurde u.a., ob und welche Schuldzuweisungen sich finden, wenn etwa muslimische oder geflüchtete Menschen pauschal verantwortlich gemacht werden, bzw. in welchem Ausmaß Angst ausgedrückt wird.

So gab es beispielsweise relativ viele Menschen in Indien, die sich durch den Wien-Terror an einen Anschlag in Mumbai erinnerten und ihre Ängstlichkeit erneut ausdrückten. Im unmittelbaren Nachgang der Vorkommnisse in der Wiener Innenstadt reagierten zur Überraschung der Forscher insgesamt vor allem Menschen, die weit weg von Wien und Österreich lebten, am stärksten mit Schuldzuweisungen und Ängstlichkeit, erklärte Strembeck.

"Ausmaß der Schuldzuweisungen glich sich hinterher an"

"Hierzulande hat man eher sorgenvolle Nachrichten nach dem Motto 'Geht's euch gut?' versendet - also eher empathische Nachrichten." Angsterfüllte Mitteilungen kamen unmittelbar nach dem 2. November aus Wien und Österreich deutlich seltener als aus dem Rest der Welt. Ein so deutlicher Unterschied habe sich in ähnlichen Studien noch nicht gezeigt, so der WU-Forscher: "Man hätte vermuten können, dass jemand, der räumlich näher dran ist, auch ängstlicher ist, selbst von der Gewalt getroffen zu werden."

Der Ausdruck von Angst wurde allerdings mit zeitlichem Abstand zum Anschlag auch in Wien und Österreich häufiger. Unter Personen mit Wien-Nähe - geografisch oder sozial - gingen mit der Zeit auch die Zahl der teils sehr pauschalen Schuldzuweisungen hinauf. "Hinterher hat sich das Ausmaß, in dem Schuldzuweisungen sowie die Angst vor Terror ausgedrückt wurden, weltweit angeglichen", so Strembeck. Sorge und Hilfestellung in und um Wien wichen mit der Zeit anderen Aspekten der Auseinandersetzung.

Frappant auch die Entwicklung zum ersten Jahrestag des Wien-Terrors: Die Anzahl der einschlägigen Tweets stieg wieder deutlich an und die emotionalen Ausdrücke waren relativ ähnlich ausgeprägt - mehr oder weniger egal, wo auf der Welt der Urheber saß.

Universelle Muster?

Das für die tragischen Vorfälle in Wien entwickelte Studiendesign wollen die Wissenschafter auf weitere, vergleichbare Vorkommnisse anwenden. So lasse sich herausfinden, ob dieses Muster mehr oder weniger universell im Nachgang von Terroranschlägen oder auch Naturkatastrophen beobachtbar ist.

Dass solche Forschungen möglich sind, ist dem Zugang zu Twitter-Daten für Forscher zu verdanken. Jedoch scheint sich hier in Folge der Übernahme der Plattform durch den Tech-Milliardär Elon Musk eine Änderung abzuzeichnen. Gemunkelt wird, dass Musk eine Paywall für die "Academic Accounts" einziehen will. Der erschwerte Zugang zu einer aktuell sehr populären Datenquelle wie Twitter könnte ein Rückschlag für das sich rasch entwickelnde Feld der computerbasierten Sozialwissenschaften sein, betonte Strembeck.

"Hinterher hat sich das Ausmaß, in dem Schuldzuweisungen sowie die Angst vor Terror ausgedrückt wurden, weltweit angeglichen"

(APA)

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