Quergeschrieben

Das Ukraine-Paradoxon: Mit Nationalstolz die Nation abschaffen

Die stolze Ukraine will in die EU, wo aber nationale Euphorie als reaktionäres Ding von gestern gilt. Ein Widerspruch, unter dem die ganze EU irgendwie leidet.

Wenn ein polnischer Spitzenpolitiker in Westeuropa eine Grundsatzrede hält, dann kann er davon ausgehen, von den dortigen Medien und der Politik weitgehend ignoriert zu werden. Polen, das ist im Mindset vieler Westeuropäer – zu denen diesbezüglich auch Österreich zählt – noch immer das Land, aus dem primär Putzfrauen und Autodiebe kommen; ein Land, das so eine Art katholischer Gottesstaat geworden ist. Und das dadurch bekannt geworden ist, in der EU dauernd Zores zu machen, anstatt in demütiger Büßerhaltung für das Geld aus Brüssel zu danken.

Diese anmaßende, ignorante und ahistorische Haltung vieler im Westen ist dumm und führt zu Fehleinschätzungen. Denn Polen ist wirtschaftlich enorm erfolgreich, hat heute eines der besten Schulsysteme Europas, ist auf dem Weg zu einer militärischen Großmacht, hat gerade 1000 schwere Panzer (in Südkorea) bestellt und drei Dutzend hochmoderne F-35-Kampfjets in den USA, ist eine strategische Partnerschaft mit dem zum Vorbild ernannten Südkorea eingegangen, hat eine zentrale Funktion im „Nordschild“ der Nato übernommen – und könnte langfristig Deutschland als wichtigsten transatlantischen Partner Washingtons in der EU ablösen.

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Bei aller notwendigen Kritik an der Regierung in Warschau hat es also durchaus Sinn, wenigstens zuzuhören, wenn polnische Spitzenpolitiker die Positionen ihrer Heimat skizzieren, wie es Ende März Polens Ministerpräsident, Mateusz Morawiecki, in der ehrwürdigen Universität Heidelberg versucht hat. Das ist schade, weil Morawiecki in seiner Rede nicht nur Deutschland zu Recht darauf hingewiesen hat, sämtliche Warnungen aus Warschau vor den Folgen der Energie-Abhängigkeit ignoriert zu haben, sondern auch die Dynamik dieses kleinen Triumphs genutzt hat, ein ganz anderes Problem anzugehen, das die EU bislang nicht gelöst hat, das aber eine Quelle permanenter politischer Entzündungen ist.

Der polnische Politiker vertritt den Standpunkt, die EU dränge zwar mit einigem Erfolg die nationalen Identitäten ihrer Mitgliedstaaten zurück, biete aber keine attraktive oder glaubwürdige europäische Identität an. Zwar ging er in seiner Rede so weit, den Brüsseler Drang nach Auslöschung nationaler Identitäten mit Russlands Wunsch nach Auslöschung jener der Ukraine zu vergleichen, was maßlos überzogen ist – doch die Diagnose ist nachvollziehbar. Dabei geht es um keine akademische Debatte, sondern um Politik – kaum ein Wahlkampf in einem EU-Staat, in dem die Frage nach „national“ versus „europäisch“ nicht eine wichtige Rolle gespielt hätte, von Italien bis Finnland, wo jene Partei, die das Land aus der Union führen möchte, enorm gestärkt worden ist.

Geradezu bizarr paradox mutet dieses Phänomen übrigens in der Ukraine an. Dort ist auf der einen Seite die nationale Begeisterung, die nahezu religiöse Überhöhung der ukrainischen Nation wegen des Kriegs ausgebrochen wie ein Vulkan – auf der anderen Seite drängt dieser feurig glühende Nationalstaat machtvoll in die EU, deren Ziel es ist, jeglichen Nationalismus auszutreiben als Relikt einer reaktionären Vergangenheit. Milliarden fließen von der Union in die Ukraine, um diese als Nation buchstäblich zu retten – mit der Perspektive, sie irgendwann in die Union aufzunehmen und als Nation wieder zum Verschwinden zu bringen.

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