Todestag

Kelsen und die Demokratieskepsis

Hans Kelsen (1881–1973), Rechtstheoretiker, Verfassungsjurist, Demokratielehrer.
Hans Kelsen (1881–1973), Rechtstheoretiker, Verfassungsjurist, Demokratielehrer.[ picturedesk
  • Drucken

Pessimisten sehen die Demokratie am Abgrund. Vor 100 Jahren hat sich Hans Kelsen Gedanken dazu gemacht. Was würde er uns heute, an seinem 50. Todestag, sagen?

Soll die Demokratie ihrer Abschaffung tatenlos zusehen, wenn der Augenblick eintritt, in dem eine Mehrheit des Volks das so will? Ist sie am Ende die Staatsform, die sich am wenigsten gegen ihre Gegner wehren kann? Hat man als Demokrat in der Krise gar keine Möglichkeit, als theoretisch die Demokratie zu verteidigen, sich aber der Mehrheit zu beugen, wenn die sie zerstören will? Überlegungen wie diese stellte Hans Kelsen 1932 an, also am Vorabend des Untergangs der deutschen Republik von Weimar und dem Aufstieg des autoritären Hitler-Regimes.

Er kam zu einem aufwühlenden Ergebnis, das einmal als „heroische Resignation“ gedeutet wurde. Er meinte: „Eine Demokratie, die sich gegen den Willen der Mehrheit zu behaupten, gar mit Gewalt sich zu behaupten versucht, hat aufgehört, Demokratie zu sein. Eine Volksherrschaft kann nicht gegen das Volk bestehen bleiben. Und soll es auch gar nicht versuchen, d. h. wer für die Demokratie ist, darf sich nicht in den verhängnisvollen Widerspruch verstricken lassen und zur Diktatur greifen, um die Demokratie zu retten. Man muss seiner Fahne treu bleiben, auch wenn das Schiff sinkt; und kann in die Tiefe nur die Hoffnung mitnehmen, dass das Ideal der Freiheit unzerstörbar ist und dass es, je tiefer es gesunken, umso leidenschaftlicher wieder aufleben wird.“


Freilich sollte man sich angesichts dieses Zitats hüten, es als völlige Selbstpreisgabe der Demokratie zu deuten. Gegen Ende wird der Ausweg angedeutet. Die Entscheidung der Mehrheit sei nicht als endgültig zu sehen und gelte nicht absolut für alle Zukunft. Es gibt einen Korrekturmodus: Die Minderheit von heute hat die Chance, die Mehrheit von morgen zu werden, die Entscheidungen sind änderbar.
Das alles sind keine rein akademischen Fragen. Freiheitliche Verfassungsstaaten der Gegenwart haben durchaus Instrumente der „wehrhaften“ Demokratie in ihre Verfassungen eingebaut, die einer übergroßen Mehrheit den Zugriff auf bestimmte zentrale Verfassungsprinzipien entziehen. Sie setzen auf den Rechtsstaat als für die menschliche Freiheit höheren Wert als die Demokratie. Aber brandaktuell ist Kelsens Überlegung schon, auch für Österreich. Wenn die FPÖ bei den nächsten Wahlen gewinnt, repräsentiert das den Wählerwillen und sie ist demokratisch legitimiert. Wer dann sagt, die Demokratie sei gefährdet, der sagt eigentlich nur, dass ihm das Ergebnis nicht passt und er einer solchen Gruppierung die politische Macht lieber nicht überantworten möchte.

Hans Kelsen hat einen zentralen Platz im Pantheon der Rechtswissenschaft. Über ihn als „Architekten“ der, man kann es nicht oft genug zitieren, „schönen und eleganten“ österreichischen Verfassung von 1920 wurde zum 100-Jahr-Jubiläum vor drei Jahren genug geschrieben. Doch Kelsen war noch viel mehr, er verfasste „einige der wichtigsten Demokratiebegründungsschriften überhaupt“, so Horst Dreier in seiner neuen, sehr gut lesbaren und kompakten Übersicht zu Kelsen (siehe Literaturtipp). Gewisse Parallelen zur heutigen Lage sind ja auch nicht von der Hand zu weisen: Die Demokratie als Staatsform gerät in eine immer stärker werdende Krise.

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.