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Die Göttin des Social-Media-Wickels

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Streit und Zwietracht sind schon schräge Namensgeber für eine Gesprächsplattform.APA/AFP/KIRILL KUDRYAVTSEV
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Aufgrund eines aktuellen Anlasses: Wie kommt man eigentlich auf die Idee, eine Online-Plattform für Geplauder, gepflegten Austausch und Unterhaltung nach der römischen Gottheit der Zwietracht zu benennen?

Sie haben doch sicher auch die Sache mit dem jungen Bubi in den USA gehört, das massenhaft Geheimakten des Militärs ins Internet gestellt hat. Erst in eine private Chatgruppe, aber das sickerte irgendwann durch. Riesenwirbel jetzt! Gefahr für die nationale Sicherheit, das westliche Engagement gegen Russland und so weiter. Wird nicht lustig für den Typen, den sie jüngst verhaftet haben.

Nun, diese besagte Chatgruppe befand sich auf einer Online-Kommunikationsplattform namens „Discord". Ehrlich: Wer kommt auf die Idee, so ein System zum Plappern, für Gedankenaustausch und Unterhaltung nach Discordia, der römischen Göttin der Zwietracht, des Streits, Konflikts, zu benennen? Ihre griechische Vorläuferfigur „Eris" war berüchtigt dafür, den Trojanischen Krieg ausgelöst zu haben, als sie bei einer Götterhochzeit, zu der sie nicht eingeladen war, den goldenen Apfel der Zwietracht - den Zankapfel - unter die Gäste warf. Darauf stand eingraviert: „der Schönsten“ - also er möge der schönsten der anwesenden Göttinnen gehören. Daraufhin begannen Aphrodite, Athene und Hera um die Frucht zu streiten, es folgte eine verhängnisvolle Wahl durch Paris, Sohn des Königs von Troja, aber lassen wir das. Lange Story.

Eris (Discordia, im Hintergrund) hat den goldenen Apfel der Zwietracht unter die anderen Göttinnen geworfen.Gemälde von Jakob Jordaens (1633), Prado-Museum, gemeinfrei

Jedenfalls: Das mit der Namensgebung ist doch beknackt, oder?

Aber eben irgendwie symptomatisch für den Social-Media-Komplex: Dessen Schöpfer und erste User waren gutmeinend naiv und sahen darin ein Mittel freier, gepflegter Kommunikation und Selbstdarstellung. Man schloss vielleicht von sich auf andere, überschätzte das Edle, Vernünftige im Menschen. Dann wurde daraus aber, wie auch allerhand Philosophen, Künstler, Medienexperten und ganz „normale" Menschen zunehmend befinden, trotz vieler guter Seiten ein mittlerweile überwiegend negatives System. Eines von Überheblichkeit, Boshaftigkeit und Spott, Intrige, übler Nachrede, Hass, außergerichtlicher sozialer Anklage, von Lüge, Propaganda und Verschwörungstheorien, von sozialer Kontrolle, Neurosengärtnern, samt Mobbing, Shitstorms, eitlen Posens, Wichtigtuns, Alleskommentierenmüssens und Aktivistelns. Auf gut Österreichisch: von Wickeln halt.

Eine deutsche CSU-Staatssekretärin nannte einst etwa die Plapperplattform Twitter eine Spielwiese für Politiker, Publizisten und Psychopathen. Milieubedingt tobte danach ein tüchtiger Gagelhagel gegen die Dame. Gut, das war schon etwas überzogen gewesen, hat aber einen großen wahren Kern (ein angeblich armenisches Sprichwort lautet: „Wer die Wahrheit sagt, braucht ein schnelles Pferd“). Siehe die Sache mit dem Bubi und den Discord-Leaks. Dabei muss man so weit gar nicht schauen. (wg)

Reaktionen an:wolfgang.greber@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.04.2023)


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