„Es ist egal, ob Putin oder Medwedjew Russlands nächster Präsident wird“

Interview. US-Politologe Daniel Treisman über die Einigkeit des Führungs-Tandems, Russlands inkonsequente Technologiepolitik und warum das Land dennoch ein normales Schwellenland ist.

Die Presse: Dieses Jahr wollen Wladimir Putin und Dmitrij Medwedjew festlegen, wer von beiden als Präsidentschaftskandidat 2012 antritt. Bereits jetzt wird jede Rede, jede Reaktion im Lichte der bevorstehenden Wahl interpretiert. Ist es wirklich so wichtig, wer Präsident wird?

Daniel Treisman: Nein, man sollte sich nicht allzu viel auf diese persönlichen Fragen konzentrieren. Es ist eigentlich egal, ob Putin oder Medwedjew Präsident wird. Angesichts der aktuellen Rollenverteilung im Tandem würde es Sinn machen, wenn Medwedjew eine zweite Amtszeit anhängt. Kehrt Putin als Präsident zurück, dann hat er entschieden, dass die Tandem-Strategie nicht länger funktioniert. Sie war aber bisher effektiv.

Sie sagen, es ist gleichgültig, wer Russlands nächstes Staatsoberhaupt wird?

Putin und Medwedjew gehören zu einer Mannschaft. Sie kennen sich seit knapp 20 Jahren und haben viele Jahre davon gemeinsam gearbeitet. Sie teilen ein gemeinsames Interesse, eine gemeinsame strategische Vision für Russland, und sie haben dasselbe Ziel: Sie wollen an der Macht bleiben. Und sie sind sich einig, wie das zu tun ist. Es mag zwischen ihren Mitarbeiterstäben eine gewisse Spannung geben, aber ich sehe keine Belege für einen ernsthaften Machtkampf zwischen ihnen.

In ihrer Rhetorik unterscheiden sich Putin und Medwedjew aber doch beträchtlich.

Die beiden haben eine Arbeitsteilung, was ihren Zuspruch für verschiedene Gruppen innerhalb und außerhalb Russlands angeht. Medwedjews Aufgabe ist es, die moderate, besser ausgebildete, junge urbane Elite anzusprechen; er ist das „neue Gesicht“ Russlands für den Westen. Putins Job ist es, den Durchschnittsrussen anzusprechen: jemanden, der in der Provinz wohnt, skeptischer gegenüber dem Westen ist, für den das wirtschaftliche Wohl sehr wichtig ist. Aufgrund dieser Rollenaufteilung scheinen die Aussagen der beiden manchmal in Konflikt zueinander zu stehen.

Wie beim Chodorkowskij-Prozesses im vergangenen Dezember, als Medwedjew Putin indirekt kritisierte, dass man einen Angeklagten nicht durch Worte vorverurteilen soll. Putin hatte gesagt, dass ein Dieb im Gefängnis bleiben müsse.

In der russischen Provinz hat man wenig Sympathie für Milliardäre. Medwedjew schien Putin aus formaljuristischer Warte zu kritisieren. Aber Konsequenzen hatte die Sache keine – für den Präsidenten war es nur ein Versuch, sich anders zu positionieren. Wobei man sagen muss: Es ist für Medwedjew schwieriger geworden, sich als jemand mit einer anderen Mission zu präsentieren.

Zu den jüngsten Ausschreitungen in Moskau: Beunruhigen diese eigentlich die Regierung?

Rassistische und xenophobe Gewalt ist ein wachsendes Problem für Russland. Teilweise sind die Behörden dafür verantwortlich – sie haben sich nicht klar genug abgegrenzt. Die Unterstützung von Putins Regime hängt von einem moderaten Nationalismus ab. So hat der Kreml regierungsnahe Jugendbewegungen gefördert und sie zu Protesten vor ausländischen Botschaften aufgestachelt. Diese Bewegungen sind zwar nicht direkt mit Rassisten verbunden, aber sie liegen auf derselben Wellenlänge. Unkontrollierte Ausbrüche von rassistischer Gewalt untergraben allerdings die eigene Autorität. Man wird versuchen, solche Ausbrüche zu kontrollieren – fraglich ist, wie clever man das tun wird.

Ein Schlagwort Medwedjews ist die Modernisierung des Landes. Inwieweit gibt es in der politischen Elite tatsächlich Bereitschaft dafür?

Der Führung ist bewusst, dass die Wirtschaft zu sehr von Öl und Gas abhängt. Man will die Diversifizierung über die Entwicklung von Hochtechnologie vorantreiben. Derzeit beträgt der Anteil von Hightech-Produkten an Russlands BIP drei Prozent. Medwedjews Projekt ist Skolkowo, ein Technologiepark vor den Toren Moskaus. Geschäftsleute sollen dort investieren, Wissenschaftler auf Kommando Ideen entwickeln. Nur kleine Inseln der Innovation zu errichten funktioniert jedoch nicht. Praktikable Modelle für Innovation benötigen einen offenen Ideenfluss, ein hohes Niveau an ökonomischem Wettbewerb, eine Umgebung von Toleranz und intellektueller Offenheit. Das ist nicht das, was wir in Russland unter Medwedjew sehen.

Würde Medwedjew Innovation ernst nehmen, müsste er politisch liberalisieren, die Medien stärken und aus Russland ein Land machen, in dem erstklassige Wissenschaftler und Risikoanleger leben wollen. Die Führung ist aber nicht gewillt, die politischen und sozialen Reformen durchzudenken, die für eine Diversifizierung der Wirtschaft nötig sind.

Als Putin Präsident wurde, war Russland ständig in den Medien, Dutzende Bücher erschienen. Das internationale Interesse scheint jetzt abzuflauen. Ist Russland schon ein normales Land geworden?

Aus Russland ist ein normales Schwellenland geworden. Länder wie die Türkei, Argentinien, Malaysia haben politische Systeme, die nicht voll demokratisch sind. Russland hat natürlich seine Eigenheiten: Es ist der weltgrößte Flächenstaat, hat seine spezifische Geschichte und das weltweit größte Atomwaffenarsenal. Aber viele der Probleme, von denen man denkt, sie seien typisch russisch, haben auch andere Staaten. Russland-Experten beschäftigen sich üblicherweise nicht mit Mexiko oder der Türkei. Sie vergleichen Russland mit Westeuropa oder den USA. Wenn man nicht systematisch vergleicht, könnte man glauben, dass die Gründe für Russlands Probleme in seiner Vergangenheit liegen und unabänderlich sind.

Gibt es ein Vorbild für Russlands Entwicklung?

Jedes Land geht seinen Weg. Ich gehe davon aus, dass es in Russland in 20 Jahren einen signifikanten Fortschritt in Richtung eines stärker westlich geprägten politischen Systems geben wird. Wenn die Bevölkerung reicher wird und das Ausbildungsniveau steigt, wird es für ein traditionelles Regime schwieriger, zu funktionieren.

Andererseits: In Russland kann der Wandel schnell kommen. Mich würde es nicht wundern, falls das heutige System plötzlich fragil wird, wenn sich die Wirtschaftslage sehr verschlechtert.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.01.2011)

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