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Wie es zu den Importstopps gegen die Ukraine kam

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Ein Preisverfall, volle Silos und innenpolitische Aspekte lassen Polen, Ungarn und weitere osteuropäische Länder aus der EU-Solidaritätsaktion für die Ukraine aussteigen.

Brüssel/Wien. Die Ukraine droht in diesem Krieg, erneut auf ihren Getreide- und Ölsaaten sitzen zu bleiben. Nicht nur Russland blockiert die Ausfuhr. Jetzt wollen auch osteuropäische Länder den Handel einstellen, um ihre Bauern vor der billigen Konkurrenz zu schützen. Sie nehmen dafür auch einen Konflikt mit Brüssel in Kauf. Eine Übersicht:

1. Wie entstand das Problem in den ukrainischen Nachbarländern?

Durch Russlands Überfall auf die Ukraine und die Blockade des Schwarzen Meeres. Das ist traditionell das Tor zur Welt für das Füllhorn der ukrainischen Landwirtschaft: von Weizen für den Nahen Osten und Futtermais für die Niederlande und Spanien bis zu Sonnenblumenöl für Asien. Die EU hat der Ukraine den zoll- und quotenfreien Export für ein Jahr erlaubt und sogenannte Solidaritätskorridore auf dem Landweg errichtet, um den Transport mittels Lkw und Bahn zu den polnischen Ostseehäfen zu erleichtern.

Doch in der Zwischenzeit sind die Weltmarktpreise für Weizen und Futtermais gefallen. Enorme Mengen an ukrainischem Getreide bleiben in Silos in Polen, der Slowakei und Ungarn, weil die Händler auf einen Anstieg der Preise warten. Das raubt lokalen Produzenten die Lagermöglichkeiten, und es drückt die Preise, die sie vor Ort erzielen könnten. In Bulgarien und Rumänien betrifft dieses Problem eher Sonnenblumenkerne. Weil die ukrainischen Ölmühlen zerstört sind oder keine verlässliche Stromversorgung haben, exportieren die Produzenten die Kerne auf dem Landweg über die Grenze, um sie zu Öl pressen zu lassen.

Auch hier entsteht ein Dominoeffekt zulasten der lokalen Betriebe. Darum haben Polen, Ungarn, die Slowakei und Bulgarien Importverbote erlassen. 56 Millionen Euro an Soforthilfen aus dem EU-Budget, welche die Kommission im März freigegeben hat, haben daran bisher nichts geändert (ein zweites Geldpaket ist in Vorbereitung).

2. Gibt es ein politisches Kalkül von Polen und Ungarn?

Natürlich. In Polen stehen im Herbst Neuwahlen an. Die PiS-Regierung unter Ministerpräsident Mateusz Morawiecki versucht, die aufgebrachte Bauernschaft zu beruhigen. Nach Protesten in Polen hatte die ukrainische Regierung bereits einen konkreten Vorschlag gemacht, die Ausfuhr von sich aus zu beschränken und vorübergehend sogar ganz einzustellen. Doch mit dem Importverbot will die PiS ihre Entschlossenheit signalisieren, sich im Zweifel auch mit Brüssel anzulegen. Ähnlich agiert Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán, der versucht, alle Wirtschaftsprobleme seines Landes der EU und deren Russland-Sanktionen in die Schuhe zu schieben.

3. Entscheidet die EU-Kommission über die Köpfe der betroffenen Staaten hinweg?

Nein. Allerdings zählt die Handelspolitik zu einer der Kernkompetenzen der EU-Kommission. Deshalb erklärte sie in einer ersten Reaktion auch die Importverbote als „inakzeptabel“. Sie schlägt Regelungen vor und ist für deren gemeinsame Umsetzung verantwortlich. Im Februar schlug die Kommission eine Verlängerung der Zoll- und Quotenfreiheit für die ukrainischen Agrarausfuhren bis Juni 2024 vor. Auch ihr müssen die EU-Regierungen zustimmen, und zwar mit qualifizierter Mehrheit (55 Prozent der Mitgliedstaaten, die 65 Prozent der Gesamtbevölkerung der Union repräsentieren).

Da es bereits Einwände von mehreren osteuropäischen Staaten gab, wurde ein Schutzmechanismus hinzugefügt. Mit ihm können Zölle für bestimmte Produkte schon nach drei statt wie bisher nach sechs Monaten eingeführt werden, wenn es zu erheblichen Marktverzerrungen kommt. Auch die Prüfung solcher Verzerrungen soll von den betroffenen Mitgliedstaaten schneller beantragt werden können. Eine Plombierung von ukrainischen Lieferungen oder die Pflicht zur Hinterlegung von Kautionen bis zur Ausfuhr des Getreides aus der EU, wie es in Polen diskutiert wird, wollte eine Kommissionssprecherin am Montag nicht kommentieren.

4. Wird das Auswirkungen auf die Absicht des EU-Beitritts der Ukraine haben?

Mit Sicherheit. „Das ist eine sehr gute Frage“, sagte ein hoher EU-Diplomat am Montag gegenüber der „Presse“, genau auf dieses Thema angesprochen. Zur Erinnerung: Die Ukraine ist mit der EU seit 1. Jänner 2016 über ein Assoziierungsabkommen in die sogenannte „vertiefte und umfassende Freihandelszone“ verbunden (zwei Jahre zuvor traten schon Moldau und Georgien derselben bei). Das bedeutet de facto zoll- und quotenfreien Warenaustausch (für landwirtschaftliche Produkte und Lebensmittel nur, wie hier beschrieben, seit der russischen Invasion auf jeweils ein Jahr befristet) im Gegenzug für tiefgehende Staatsreformen, die gleichsam „EU-fit“ machen sollen. Seit 23. Juni vorigen Jahres ist die Ukraine auch Beitrittskandidatin.

Doch der Schritt zu einer Vollmitgliedschaft ist enorm – allem voran darum, weil die Ukraine dann vollen Zugang zur Gemeinsamen Agrarpolitik und zu den Regional- und Kohäsionsfonds erhielte. Die Förderungen aus diesen Töpfen machen derzeit rund zwei Drittel des gesamten Unionshaushaltes aus. „Die Ukraine ist ein Land mit rund 40 Millionen Einwohnern und einer Fläche, die größer ist als Frankreich“, gab der EU-Diplomat zu bedenken. Ihr Beitritt hätte starke Kürzungen der Subventionen für die anderen Mitgliedstaaten zur Folge – allen voran für Polen, den derzeit größten Nettoempfänger. Das wäre also – auch im Licht der aktuellen Probleme mit den ukrainischen Getreideimporten – politisch untragbar. Eine bedeutsame Vergrößerung des Unionshaushaltes ist allerdings ebenso unrealistisch.

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