Mit Fliegerjacke und Mofa fuhr eine Künstlerin 1950 durch das kaputte Land ihrer Vorfahren.
Das Motor-Fahrrad Vélosolex, 1946 auf den Markt gekommen, gehörte bald zum französischen Lebensstil wie Baguettes und Croissants. Ein pedalstartbarer Zweitaktmotor von einer halben Pferdestärke trieb via Reibrolle das Vorderrad an. Dieses Fahrrad mit Wasserkopf war 1950 das Idealgefährt für die 37-tägige Süddeutschlandtour der Fotografin, Modedesignerin, Essayistin und Übersetzerin Ré Soupault (1901–1996), geboren in Pommern als Meta Erna Niemeyer. Ihre Fahrt diente der Kontaktaufnahme zu alten Freunden, zu Verlagen wegen Übersetzungen und zu Rundfunkstationen wegen Hörspielideen.
„Die Verkehrspolizei ist blöde wie immer“, konstatierte Soupault, die wohl „alle“ Kunstschaffenden ihrer Ära kannte, zuerst am Bauhaus (Kandinsky, Klee, Gropius), später in Paris (Man Ray, Léger, Max Ernst). Im Krieg hatte sie in Tunis mit Ehemann Philippe Soupault, bis zur Flucht vor den Deutschen, einen Radiosender aufgebaut. 1948 kehrte sie aus dem US-Exil zurück, verarmt und desorientiert nach der Trennung von ihrem Mann, der sich in eine seiner Studentinnen verliebt hatte.
Über das Vélosolex wusste Ré Soupault ziemlich bald: „Dieses Fahrrad verändert mein Leben.“ Ihr Reisetagebuch „Überall Verwüstung. Abends Kino“ (2022) zeigt neue Facetten der Frau, die auch als Renate Green und Ré Richter aufgetreten war – und ihren Blick auf das Nachkriegsdeutschland. „Meine eng anliegenden braunen Hosen, die Fliegerjacke mit Haube und die blauen Sandalen“ seien „auffallend“, Exzentrisches würde hier, im Gegensatz zu lateinischen Ländern, „abgelehnt“.
Oft von technischen Gebrechen eingebremst, hat Soupault Muße – und empfindet die Landschaft als bezaubernd und ihre Bewohner als hässlich. „Nur Kampf und Härte, und dann betäuben sie sich mit Bier und blöden Lustbarkeiten, nur um zu vergessen.“ Sie ärgert sich über miese Straßen und über den Mechaniker, der ihr vom Vélosolex abrät, da es die weibliche Gesundheit schädige, ebenso wie über die Soupault-Beziehung („war doch meistens Leerlauf“) – mit ihrem Mann sollte sie erst wieder in den Siebzigerjahren zusammenkommen.
("Die Presse Schaufenster" vom 14.04.23)