#MeToo und Literatur

Stuckrad-Barre, sind Sie nun Autor oder Zeuge?

Einst eng befreundet mit dem Springer-Chef - das ist jetzt vorbei: Benjamin Stuckrad-Barre.
Einst eng befreundet mit dem Springer-Chef - das ist jetzt vorbei: Benjamin Stuckrad-Barre.(c) Christoph Soeder / dpa / picturedesk.com (Christoph Soeder)
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Wolfgang Fellner kommt als Erster zu Wort im Roman „Noch wach?“ des deutschen Autors, danach verarbeitet er sein Insider-Wissen über die Chefetagen von Springer und „Bild“-Zeitung. Doch das ist ein problematisches Spiel.

Der erste Mann, der im Roman „Noch wach?“ zu „Ehren“ kommt, ist der österreichische Medienunternehmer Wolfgang Fellner. Und zwar mit folgendem, in Österreich bekannten Widerruf, den er 2021 schriftlich im „Standard“ tätigen musste: „Im Mai 2021 hat ,Der Standard‘ berichtet, dass ich zu K. W. geäußert hatte, dass ich sie lieben würde; ob ich in ihr Kleid ,hinten reinschauen‘ und es ,einmal kurz aufzippen‘ solle (. . .) Ich hatte dazu behauptet, dass K. W. diese meine Äußerungen frei erfunden hätte. Das widerrufe ich hiermit.“

Das zweite Motto ist ein Satz Bill Clintons, das dritte betrifft einen der einstigen Vorwürfe gegen den deutschen Politiker Christian Wulff. Von „Bild“-Chefredakteur Julian Reichelt oder Springer-Chef Mathias Döpfner steht kein Zitat da – und doch wird wohl keiner, der das Buch in den nächsten Monaten in die Hände bekommt, nicht an diese beiden denken.

Benjamin Stuckrad-Barre, bekannt geworden als Popliterat der 90er-Jahre, Journalist und Moderator, hat seit Wochen Gerüchte genährt, dass sein neuer Roman „Noch wach?“ inspiriert sei von den Vorgängen rund um den 2021 entlassenen, von Springer-Vorstandschef Mathias Döpfner lang gestützten „Bild“-Chefredakteur Julian Reichelt. Stuckrad-Barre selbst zählte jahrelang als Journalist zu den Starautoren des Springer-Verlags und war mit Springer-Chef Mathias Döpfner sehr eng befreundet.

„Mein Freund“ und dessen Bluthund

An Döpfner kann der Mann im Roman erinnern, der vom Ich-Erzähler „Mein Freund“ genannt wird und auf den letzten Seiten dann „Ex-Freund“. Er ist ein mächtiger Mitbesitzer eines international agierenden Medienunternehmens mit Sitz in Berlin, kulturverliebt, ganz technikfern und doch begeistert vom amerikanischen „Zukunftslabor“ Silicon Valley und Elon Musk. Der Ich-Erzähler ist auch bei dessen Gesprächen mit Musk und dem brandenburgischen Ministerpräsidenten in Berlin dabei. Über Dutzende von Seiten erstreckt sich das Porträt „meines Freundes“, bis in Beschreibungen davon, wie er „knäuelweise“ Pommes isst. Zwischendurch tauschen sich er und der Ich-Erzähler im Roman auch kurz über den „Springer Verlag“ und eine Nacktbade-Affäre rund um den „ehemaligen Bild-Chefredakteur“ aus.

Kern des Konzerns „meines Freundes“ ist ein Sender, dessen Chef einst als Kriegsreporter begonnen hat (wie Ex-„Bild“-Chefredakteur Julian Reichelt). Mittels der „Soap Noir“, wie der Ich-Erzähler die Nachrichtenshow des Senders nennt, hetzt dieser Menschen – einmal bis in den Selbstmord. In einer Antisucht-Selbsthilfegruppe lernt der Ich-Erzähler Sophia kennen, eine Mitarbeiterin des Senders. Sie erzählt ihm von ihren schlimmen Erlebnissen mit dem Senderchef, wie er sie umgarnte, sie sich geschmeichelt fühlte, schließlich belogen und betrogen. Mit der Zeit erzählen immer mehr Leute ihm „Ungeheuerlichkeiten über die Zustände“. Nicht zuletzt durch seine Freundschaft mit dem Konzernchef wird der Ich-Erzähler „zu einer Art Spezialtelefonzentrale des Senders“.

Doch sein Freund will nichts unternehmen, beharrt auf „Beweisen“. (Der Titel „Noch wach?“ bezieht sich übrigens auf eine nächtliche SMS des Senderschefs mit diesem Wortlaut, die der Erzähler seinem Freund vorlegt). Am Ende gibt es ein Compliance-Verfahren – wie im Fall des „Bild“-Chefredakteurs Julian Reichelt.

Weinstein-Anklägerin: „Sei kein Arschloch"

Nur widerwillig übernimmt der Ich-Erzähler im Roman die mit Verantwortung verbundene Funktion als Anlaufstelle („War ich für sie etwa die Moral oder so was? Was für eine Fehlbesetzung!“). Er tut es dann doch, nicht zuletzt aufgrund einer Art Auftrag aus Los Angeles: Die Schauspielerin Rose Mc Gowan, eine der ersten, die öffentlich Missbrauchsvorwürfe gegen den Filmproduzenten Harvey Weinstein erhob, hat ihm eine Widmung in ein Monica-Lewinsky-Buch geschrieben: „Wenn sie sich dir anvertrauen – sei kein Arschloch.“

Stuckrad-Barres ernste Satire ist unterhaltsam und beschreibt fein die psychischen und sozialen Mechanismen, die bei Missbrauchsbeziehungen am Arbeitsplatz wirken. Ebenso wie die langen Zweifel des Ich-Erzählers, wo hier Schuld und Mitschuld beginnen und enden. Dass das Buch aber nicht nur unter „ferner liefen“ besprochen wird, sondern die deutschen Feuilletons sich mit Großberichten darüber füllen, steht in keiner Beziehung zum Wert dieses Buches als Fiktion. Den Sensationscharakter bekommt es allein durch angedeutete und angenommene Beziehungen zur Realität.

Auch ein Verschleierungsroman

Diese werden nicht nur im Roman, sondern auch außerhalb seit Wochen vom Autor selbst genährt. Die mediale Inszenierung am Erscheinungstag wurde dann genau choreografiert, gleichzeitig das Manuskript vor dem Gros der Journalisten geheim gehalten.

Das Ergebnis: ein Interview im „Spiegel“, in dem Stuckrad-Barre erzählt, wie er „Zeuge geworden“ sei, und eine Hymne in der „Zeit“ durch Journalist Volker Weidemann, der ebenfalls als Autor bei Kiepenheuer & Witsch veröffentlicht. Er geht so weit, Stuckrad-Barre mit Klaus Mann zu vergleichen – schon dieser sei von einem „Junkie und Ästhetizisten zu einem hochmoralischen Verantwortungsautor und Publizisten und Kämpfer“ geworden, „der das Meisterwerk Mephisto schrieb“. Hier wird die Inszenierung schon zur unfreiwilligen Parodie.

Problematischer freilich ist, dass ein Roman, der mit der Realität spielen darf, zur Intervention in der heftig diskutierten Mediencausa rund um den Springer-Konzern und dessen Chef Mathias Döpfner gerät. Abgesehen davon, dass man aufgrund der persönlichen Beziehungen des Autors nicht weiß, wie viel Abrechnung im Buch steckt: „Enthüllungsromane“ sind immer zugleich Verschleierungsromane. Ihre Autoren taugen nicht als „Zeugen“, sie können Vermutungen und Darstellungen in die Welt setzen und sich der Verantwortung dafür jederzeit mit dem Verweis auf das „Fiktionale“ entziehen. Das ist keine Basis für die Klärung realer Vorwürfe, in denen es entscheidend ist, Dichtung und Wahrheit auseinanderzuhalten.

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