Gehirnforschung

Das Gehirn öffnen: Nicht chirurgisch, sondern auf Datenbasis

Wenn Forschende untersuchen, wie Menschen die Welt wahrnehmen, tauchen oft rechtliche und andere Probleme auf. Die Uni Salzburg sorgt dafür, dass bisher gewonnene Daten als „Open Gehirn“ für alle frei zugänglich sind. Das schont auch Ressourcen im Laborbetrieb.

Nichts verschwenden, wiederverwenden. Das Motto aus der Kindersendung „Paw Patrol“ lässt sich nicht nur auf Umweltschutz und Kreislaufwirtschaft ummünzen. Auch in der Wissenschaft suchen wir Methoden, um einmal gewonnene Daten mehrmals nutzen zu können. „In der Neurowissenschaft sind die Experimente sehr teuer. Die Maschinen kosten viel, etwa ein Kernspintomograf oder die funktionelle Magnetresonanztomografie“, sagt Florian Hutzler von der Uni Salzburg.

Er leitet das Projekt „Digital Neuroscience Initiative“, das Daten aus der Gehirnforschung frei nutzbar macht. „Auch die Manpower, also die Arbeit der Doktorandinnen und Doktoranden sowie der Post-Docs, ist viel Geld wert, wenn Versuchsreihen durchgeführt werden. Das ist doch Ressourcenverschwendung, wenn die Daten nur in ein Manuskript wandern, das in einem Journal veröffentlicht wird“, sagt Hutzler. Viel sinnvoller sei es, wenn weitere Forschende die Daten für spätere Analysen und Modelle nutzen können. Daher entstand vor drei Jahren die Idee des „Open Gehirns“, angelehnt an den Begriff „Open Access“, bei dem Errungenschaften der Technik für jeden weiteren Interessierten offenliegen und weiterentwickelt werden können. Die Ziele sind unter der Abkürzung „F.A.I.R.“ zusammengefasst: Free, Accessible, Interoperable, Reuseable (frei, zugänglich, kompatibel, wiederverwendbar).

Die DSGVO war die erste Hürde

Was mit dem Projekt „Austrian NeuroCloud“ 2020 begann, gefördert vom Wissenschaftsministerium und in Kooperation mit den Unis Graz und Innsbruck, wird nun in der „Digital Neuroscience Initiative“, gefördert vom Land Salzburg, fortgesetzt. Wieder sind mehrere Institute und Universitäten beteiligt, wenn es darum geht, das verfügbar zu machen, was an Gehirndaten bisher gesammelt wurde. „Vorbilder gibt es im angloamerikanischen Raum, wo gut durchdachte Systeme für Open Data geschaffen wurden“, sagt Hutzler.

Doch als Europäer hindere einen die simple Hürde der DSGVO, der Datenschutz-Grundverordnung, mit strengen Regeln zur Verarbeitung personenbezogener Daten. „Die Gehirndaten fallen wie andere gesundheitliche Daten oder wie religiöse Überzeugungen in die Kategorie ,sensible Daten‘ und sind besonders geschützt“, sagt Hutzler. Daher kümmert sich das Salzburger Team nun darum, dass hier die Daten so gespeichert werden, dass alles DSGVO-konform ablaufen kann.

Den Daten stets Kontext geben

Zu dieser rechtlichen Hürde, für die der Jurist Sebastian Krempelmeier in das Projekt eingebunden ist, kommen auf dem Weg zum „Open Gehirn“ noch komplexere Probleme hinzu, die u. a. mithilfe einer Computerwissenschaftlerin gelöst werden. Die Annotation der Daten ist sehr wichtig, also die Kontexte, wie Daten gewonnen wurden und welche Hypothesen getestet wurden. „Daten leben oder sterben mit der Qualität der Metadaten“, sagt Hutzler.

Er erklärt, wie schwierig diese „Interoperabilität“ werden kann. Erstens gilt es, die Datenformate so zu wählen, dass andere diese verwenden können. Das klappt heute schon sehr gut: Ergebnisse werden so gespeichert, dass andere Labore die Software haben, um hineinschauen zu können. „Komplexer ist die semantische Interoperabilität, also die Hintergrundinformation zu dem Experiment“, sagt Hutzler. Was genau wurde mit den Versuchspersonen gemacht, welche Stimuli erhielten die Probanden? Mit welcher Maschine wurde ins Gehirn geschaut (EEG, MRT, etc.)? Was bedeuten irgendwelche Kürzel, unter denen Ergebnisse abgespeichert sind?

Die Theorie entscheidet

All das müssen nachfolgende Forschende wissen, um den Gehalt der einst gewonnenen Resultate sinnvoll nutzen zu können. „Dazu kommt noch, dass man jeweils klarmachen muss, welche Theorie oder Hypothese dem Experiment zugrunde lag“, sagt Hutzler. Denn ähnlich wie in der Physik beruht die Psychologie auf Modellen und Annahmen, die unterschiedliche Zugänge zum menschlichen Gehirn offenbaren.

„Niemand hat je einen Gedanken gesehen. Und trotzdem können wir berechnen, wie kognitive Prozesse zustandekommen. Aber eben nur, wenn man weiß, mit welchem Modell man rechnet“, sagt Florian Hutzler.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.04.2023)

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