Österreich bei der Leipziger Buchmesse

Auf einen Wiener Kaffee nach Prag

„Der Zug von Prag nach Wien sollte Franz Kafka und in der Gegenrichtung Milena Jesenská heißen.“
„Der Zug von Prag nach Wien sollte Franz Kafka und in der Gegenrichtung Milena Jesenská heißen.“ Jaromír 99
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Wenn man die zwei Eisenbahner fragt, wo das Herz von Mitteleuropa schlägt, sind sich beide sofort einig: „In Wien. So war es. So ist es. So wird es auch bleiben. Man muss sich nur die Bahnkarte von Europa anschauen.“

Für alle Eisenbahnmenschen ist der Fahrplanwechsel Mitte Dezember ein Ereignis. Diesmal war es für viele aber ganz besonders. Nach vielen Jahren, wenn nicht gar nach Jahrzehnten, fährt zwischen Wien und Prag wieder ein direkter Zug auf der alten historischen Strecke über České Velenice und Gmünd. „Silva Nortica“, wie er getauft wurde, schlängelt sich durch Südböhmen und das Waldviertel. Auf der sogenannten Franz-Josefs-Bahn, wie man in Österreich immer noch sagt, der Strecke zwischen dem Wiener Franz-Josefs-Bahnhof und dem Prager Hauptbahnhof, der bis 1918 „Prag Kaiser-Franz-Josefs-Bahnhof“ hieß.

Das Böhmische Paradies ist die Gegend, aus der ich komme. Lomnice nad Popelkou, die kleine Stadt, in der ich neben Berlin immer noch wohne. In das Wirtshaus „Zum Stadion“ gehe ich mit meinem Vater, der Wien immer noch als „Hauptstadt“ bezeichnet, obwohl er nie da war, Bier trinken.

Wir stoßen mit ein paar Freunden an. Und dann eine kurze Frage in die Runde: „Österreich – was fällt euch dazu ein?“

„Wien.“ – „Linz. Linzer Augen, diese Weihnachtsplätzchen, die alle Tschechen so lieben. Und niemand macht sich irgendwelche Gedanken, dass sie eigentlich aus Linz kommen.“ – „Mein Großvater lebte vor dem Ersten Weltkrieg in Wien. Als Zimmermann. Hier hat er seine Frau kennengelernt, sie war dort Köchin. Er ist mit ihr zurück nach Böhmen. Doch vorher musste er noch in den Krieg für den Kaiser.“ – „Die Schlacht bei Königgrätz 1866, unsere gemeinsame Niederlage, unser Waterloo. Hier im Böhmischen Paradies liegen überall die Toten. Die Preußen, die Österreicher . . . “ – „Radio Ö3. Man konnte es hier bei uns empfangen, das war ein Wunder. Das hat mich vor der Wende vielleicht vor dem Selbstmord gerettet.“

Das köstliche Bier Sarajevos

„Meine erste Westreise im Dezember 1989 ging nach Österreich. Obwohl es eigentlich gar nicht der Westen war und ist. Wien liegt doch viel östlicher als Prag oder das Böhmische Paradies.“– „Die gleichen Skandale in der Politik, die gleiche Korruption. Unser Andrej Babiš, der österreichische Babykanzler, wie hieß er noch mal? Ach egal, einfach die Skandale, die Vetternwirtschaft.“ – „Die tschechischen Familiennamen im Wiener Telefonbuch und an den Geschäften. Und die deutschen Familiennamen bei uns auf dem Friedhof.“ – „Wiener Kaffee mit Schlagobers, den wir hier trinken, und den niemand in Wien kennt.“ Und immer wieder kommt auch: „Die Eisenbahn.“

Kein Wunder, am Tisch sitzen auch zwei pensionierte Eisenbahner. Ein Rangierer und ein Fahrdienstleiter. Den Urlaub haben sie nach der Wende immer im Zug verbracht, und das in ganz Europa. Auf dem Streckennetz der alten Donaumonarchie sozusagen. Wenn man die zwei Eisenbahner fragt, wo das Eisenbahnherz von Mitteleuropa schlägt, sind sich die beiden sofort einig: „In Wien. So war es. So ist es. So wird es auch bleiben. Man muss sich nur die Eisenbahnkarte von Europa anschauen.“

Was die Architektur angeht, kann der heutige Franz-Josefs-Bahnhof oder der neue Hauptbahnhof keine alten Geschichten mehr erzählen. Der eine sieht wie ein Bürogebäude aus, der andere ähnelt einem Einkaufszentrum. Und doch stimmt es nur zum Teil, und ich mag beide Orte. Denn die Züge fahren von dort aus weiter, und das ist auch gut so. Sie bringen nicht nur Menschen von Prag nach Wien, sondern auch die Geschichten von heute und damals.

Ja, dieses Heute und dieses Damals. Ich bin zwar kein Nostalgiker, doch wenn man zwischen Tschechien und Österreich unterwegs ist, wenn man sich über die beiden Länder Gedanken macht, kann man die Gegenwart nur schwer von der Vergangenheit trennen. Womöglich gilt dies auch für ganz Mitteleuropa. Warum vergessen wir das immer wieder?

Es sind nicht nur die Schienen der Eisenbahn, die uns in Mitteleuropa bis heute verbinden. Es ist, glaube ich, viel mehr.

Der Fahrdienstleiter ist über Kroatien einmal mit dem Zug nach Sarajewo gefahren. Und bewunderte durch das Zugfenster nicht nur die wunderschöne Landschaft von Bosnien-Herzegowina, sondern auch die Bauten des Architekten Karel Pařík, der einst aus dem Böhmischen Paradies, aus einem Dorf bei Jičín, nach Sarajevo kam und das Stadtbild prägte.

Das Bier in Sarajevo soll ihm auch gut geschmeckt haben, die erste Brauerei der Stadt haben Böhmen gegründet, wie an so manchen anderen Orten in der ehemaligen Monarchie. Auch der Fahrdienstleiter musste in Sarajevo an Österreich denken. An die gemeinsame Vergangenheit. Auf die hat er in der Brauerei angestoßen. Die beiden Eisenbahner wissen, dass die meisten Zugverbindungen in Tschechien schon im Kursbuch von 1913 zu finden sind. Unser unglaublich dichtes Eisenbahnnetz haben wir von der Monarchie geerbt, zusammen mit der damals hochmodernen Industrie und der gelebten Mehrsprachigkeit, die wir erst nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust, den Vertreibungen und Trennungen verloren haben.

Wenn man in Lomnice nad Popelkou morgens kurz nach fünf den ersten Zug nimmt, ist man abends kurz nach acht in Triest am Meer. Man kommt schnell auch nach Budapest oder nach Lwiw. Mit nur ein paar Mal umsteigen ist man da. So auch in Wien.

Die Eisenbahner wissen alles über die Eisenbahn, aber eins wissen sie nicht: warum der neue Zug nach Wien „Silva Nortica“ heißt, also „Nordwald“. Das erklärt uns allen ein Apotheker, der auch am Tisch sitzt. „Silva Nortica? Historisch heißt so die Waldregion nördlich der Donau. Nur Wald und fast keine Menschen. Und der Wald kennt keine Grenzen. Teile von Silva Nortica liegen in Österreich und in Südböhmen.“ Der Apotheker ist ein Kulturmensch. Er erzählt, dass er dafür wäre, dass der Zug von Prag nach Wien „Franz Kafka“ und der Zug in Gegenrichtung „Milena Jesenská“ hieße. Er ist schon ein wenig betrunken, nimmt einen Bierdeckel und möchte sofort eine Petition dafür starten und an die Tschechische Bahn und die ÖBB schicken. Denn die Schienen der Franz-Josefs-Bahn haben die Herzen der beiden Liebenden durchstochen. Im August 1920 haben sie sich in České Velenice getroffen. Kafka kam aus Prag. Jesenská aus Wien. Für eine einzige Nacht in einem Hotel am Bahnhof.

Thronfolger muss erste Klasse fahren

Der Apotheker liebt nicht nur seine Frau und Kafka und Jesenská, sondern auch Karl Kraus, der in unserer Gegend aufgewachsen ist, in Jičín. Und auch Jaroslav Hašek, der genau auf der Strecke der Franz-Josefs-Bahn in den Weltkrieg fuhr, so wie sein guter Soldat Švejk, unser Antiheld. Und vermutlich der berühmteste Tscheche auf der ganzen Welt, den auch in Österreich so viele lieben. Im Roman zieht Švejk kurz vor Tábor die Notbremse. Was vielleicht kein Zufall ist. Denn vielleicht möchte Švejk nicht nur diesen Zug, sondern die ganze Geschichte zum Halten bringen. Doch das geht nicht. „Die Züge und die Geschichte kann man nicht richtig aufhalten. Sie rollen gnadenlos weiter“, erzählt der Apotheker.

In Tábor muss Švejk dann zu Fuß zu seinem Regiment nach Budweis und von dort weiter mit dem Zug entlang der Franz-Josefs-Bahn über Gmünd und Wien und Budapest nach Galizien. In den Weltkrieg. In die Vernichtung.

„Ja, ja, nicht nur die Eisenbahnmenschen, einfach alle, die sich für die Züge der Geschichte interessieren, müssen mit ,Silva Nortica‘ fahren. Solche Züge bringen uns wieder zusammen, wir brauchen mehr davon“, sagt der Apotheker.

In Majdalena ist ein anderer Fahrgast in den Zug der Geschichte zugestiegen, erzählt er weiter, der Thronfolger Franz Ferdinand, zusammen mit seiner Gattin Sophie Chotek. Der Thronfolger hätte besser auf seinem Schloss in Chlum bleiben sollen. Denn sein Salonwagen musste nach der Ankunft abgehängt werden, ein Radsatz war heißgelaufen. So musste er in einem gewöhnlichen Wagen der ersten Klasse nach Wien reisen, was ihm sehr missfallen haben soll. Und von dort in einem Ersatzsalonwagen über den Semmering weiter nach Triest. In dem Wagen funktionierte wiederum das elektrische Licht nicht. Im Kerzenlicht fühlte er sich wie in einem Grab.

Der Apotheker erzählt es, als wäre er dabei gewesen, und dann erinnert er sich an seine erste Reise nach Wien. Ich war auch dabei. Wir beide waren damals gerade achtzehn geworden. Genau ab dem 4. Dezember 1989, nicht mal drei Wochen nach dem Fall des Pseudokommunismus in der Tschechoslowakei, durften Bürger der tschechoslowakischen sozialistischen Republik nach Österreich frei einreisen.

So haben wir es auch gleich gemacht, für einen Tag. Leider nicht mit dem Zug, sondern mit einem Bus. Wir sind tief in der Nacht aufgebrochen, gegen drei Uhr. Und gegen drei Uhr waren wir dann wieder im Böhmischen Paradies zurück. Was wir in Wien erlebt haben? Alles. Der Autobus spuckte uns an der Oper aus, und mein Freund, der Apotheker, wurde beinah gleich von einer Straßenbahn erfasst und überfahren. „Tod in Wien, im Dezember 1989, in Freiheit, das wäre traurig gewesen“, sagt er jetzt im Wirtshaus und bestellt noch ein Bier. Ein letztes.

Wir waren von der Stadt begeistert. All die Farben! Und dieser Zuckerbäcker-Stil, den wir auch kennen. Doch erst in Wien wurde uns bewusst, wie grau unsere Städte waren, ruiniert von unserem Sozialismus. Fast das ganze Geld, das wir hatten, haben wir an einem Würstelstand unterhalb der Albertina verprasst. So hat es gerade noch gereicht für zwei Bier und eine Postkarte an die Eltern in Lomnice nad Popelkou. Daraus ist eine Tradition entstanden. Immer, wenn ich in Wien ankomme, gehe ich zum Würstelstand und schreibe eine Postkarte nach Hause. „Post aus der Hauptstadt“, wie mein Vater sagt.

Jaroslav Rudiš

Geboren 1972 in Turnov, lebt in Berlin und Lomnice nad Popelkou im Böhmischen Paradies. Zuletzt sind erschienen: „Nachtgestalten“ (Luchterhand) und „Durch den Nebel“ (Sonderzahl).

Dieser Text entstand im Rahmen der Initiative „MitSprache“ der Österreichischen Häuser der Literatur vor der Leipziger Buchmesse. www.mit-sprache.net

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.04.2023)

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