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"Poker Face": Ein Krimi-Vergnügen wie früher

Bei ihr haben Lügen kurze Beine: Natasha Lyonne in „Poker Face“.
Bei ihr haben Lügen kurze Beine: Natasha Lyonne in „Poker Face“.(c) 2022 Peacock TV LLC
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Charlie (Natasha Lyonne) ist auf der Flucht. Und kann trotzdem nicht aufhören, mit ihrem sechsten Wahrheitssinn Kriminalfälle zu lösen. Rian Johnsons „Poker Face“ (streambar bei Sky) lässt die Zeiten von „Columbo" auf unterhaltsame Weise neu aufleben.

Wer in den USA mit Nachdruck öffentlich machen will, dass er etwas für ausgemachten Unfug hält, der sagt: „I call bullshit“. Der Kuhmist-Kraftausdruck, der hierin für Unwahrheit steht, rutscht Charlie Cale (Natasha Lyonne, bekannt aus dem Netflix-Hit „Orange Is the New Black“) mit enervierender Regelmäßigkeit über die Lippen. Einerseits, weil sie die nachgerade übernatürliche Fähigkeit hat, Lügen sofort als solche zu erkennen. Andererseits, weil sie ständig mit Menschen zu tun hat, die ihr Ammenmärchen auftischen. Was Charlie frustriert, uns als Streaming-Publikum aber freuen darf: Denn so ist in der Krimi-Serie „Poker Face“ stetig für Spannung gesorgt.

Die Sendung, die in Übersee bereits im Jänner dieses Jahres bei Peacock – dem Streamingsienst des NBC-Universal-Konglomerats – Premiere feierte, läuft seit 24. April auch hierzulande (bei Sky). Und schickt sich an, die guten alten Zeiten des US-TV-Krimis neu aufleben zu lassen. Eine in den zugehörigen Werbekampagnen oft bemühte Referenz ist etwa der Spürnasen-Klassiker „Columbo“, der ab 1971 zehn Staffeln lang Couchpotatos begeisterte. Mit diesem teilt „Poker Face“ dreierlei: Die kontraintuitive dramaturgische Struktur (jede Folge beginnt mit der detaillierten Schilderung eines Verbrechens, das Publikum weiß also von Anfang an, wer der Mörder ist), das Schlurfig-Gemächliche in Erzähltempo und Atmosphäre. Und, nicht zuletzt, eine exzentrische und dennoch sympathisch bodenständige Protagonistin, deren Eigenart auch abseits des Kriminal-Kontextes unterhält.

Detektivin auf der Flucht

Einigermaßen originell ist indessen die Rahmenhandlung, die von der ersten Serienfolge in Gang gesetzt wird. Und das nicht gerade zimperlich. Da werden wir Zeugen eines Doppelmordes, kaltblütig ausgeführt vom Killer-Schergen des ehrgeizigen Sohnes (Adrien Brody) eines skrupellosen Casino-Besitzers (Ron Perlman) in Nevada. Eines der Opfer ist eine Freundin unserer Serienheldin Charlie, die bei besagtem Sohnemann als Cocktail-Kellnerin angestellt ist. Und die aufgrund ihres angeborenen Bullshit-Detektors und eines hartnäckigen Gerechtigkeitssinnes gar nicht anders kann, als dem falschen Spiel hinter der vermeintlichen privaten Gewalttat auf die Spur zu kommen.

Ihr beharrliches Nachbohren in der schwindligen Causa – auch das sehr Columbo-like – führt nicht nur zu deren Aufklärung, sondern auch zur notgedrungenen Flucht Charlies aus ihrem bislang recht unaufgeregten Leben. Denn fortan haben es der Casino-Mogul und dessen gedungener Schächer auf sie abgesehen. Also nimmt sie Reißaus, in einem azurblauen Plymouth Barracuda, geradewegs in die unendlichen Prärie-Weiten des auch 2023 noch relativ wilden Westens der Vereinigten Staaten. Das macht „Poker Face“ unversehens zu einem episodischen Road Movie. Der halt nebenher auch ein Krimi ist, der Charlie jede Folge einen neuen Fall in den Schoß wirft.

Milieu-Malerei statt Ermittlungs-Effizienz

Die verbrecherischen Verwicklungen der 10 Episoden der ersten „Poker Face“-Staffel sind meist weit weniger dramatisch als die Initialzündung des Einstiegs. Dafür betören sie mit einer Abwechslung im Ambiente, die von der Rahmenhandlung ermöglicht wird: Charlie muss weiter und weiter, weg von ihren Verfolgern, die ihr stets dicht auf den Fersen sind. So verschlägt es sie ein ums andere Mal an einen neuen Ort, wo sich rein zufällig etwas Unerquickliches zugetragen hat. Und weil Charlie reflexartig wittert, wenn etwas im Argen liegt (und das Nachfragen einfach nicht lassen kann), schwingt sie sich immer wieder zur spontanen Teilzeitdetektivin auf.

Dass die wiederholte Koinzidenz der Verbrechensentdeckung nur moderat glaubwürdig ist, stört nicht weiter: „Wunderlich“ ist die Grundeinstellung dieser humorigen, locker gewickelten Serie, die es sich auch zur Aufgabe macht, nebenher ein recht zugeneigtes Porträt des (von den meisten modernen TV-Krimis sträflich vernachlässigten) US-Hinterlands und seiner illustren Bewohner zu skizzieren. (Manchmal scheint die Milieu-Malerei der Serie fast wichtiger zu sein als der jeweilige Krimi-Plot; Freunde von CSI-mäßiger Hochspannung und Ermittlungs-Effizienz sind hier also eher fehl am Platz.) Zum Tatort geraten hier Tankstellen, Barbecue-Feste, Altersheime. Täter und Opfer sind Automechaniker, LKW-Fahrerinnern, lokale Metal-Musiker – allesamt keine Pappkameraden, sondern charmante (oder ungustiöse) Charakterköpfe. Was für einen Schaulauf honoriger (Neben-)Darsteller sorgt, von Hong Chau bis Lil Rel Howery, von Chloë Sevigny bis Tim Blake Nelson.

Anker bleibt dabei natürlich Natasha Lyonne selbst, die mit wuscheliger Blondmähne in Peter Falks Fußstapfen steigt und durch die Provinz-Szenerie watschelt, oft sonnenbebrillt und lederbejackt, vom Auftreten her oszillierend zwischen anheimelnder (aber eigentlich nur vorgeschützter) Ahnungslosigkeit und stiller, würdevoller Schnüffler-Souveränität. Mit (im englischen Original) angenehm kiesiger Marge-Simpson-Stimme hakt sie haspelnd – und zunächst ganz arglos, im Quälgeiste Columbos – dort nach, wo es jene, die etwas zu verbergen haben, am meisten nervt. Und merkt dabei unweigerlich, wenn ihr jemand einen Bären aufbinden will.

Im Dienste der Wahrheit

Das mit dem sechsten Wahrheits-Sinn deutet – gleichwohl dieser auch in manchen anderen, weniger ungewöhnlichen Krimi-Serien à la „Lie to Me“ zum Einsatz kommt – im Übrigen auf den „Poker Face“-Urheber Rian Johnson hin, dessen Agatha-Christie-Modernisierung „Knives Out“ 2019 maßgeblich zum laufenden Retro-Krimi-Revival beigetragen hat (und der das Whodunit-Genre schon 2005 in seinem Durchbruch-Debüt „Brick“ beackerte). Schon in jener enorm erfolgreichen Netflix-Rätselrallye – mit Daniel Craig als Neo-Hercule-Poirot – gab es eine positiv besetzte Figur mit dem gleichsam schicksalhaften Vermögen, Wahrheit und Lüge intuitiv zu erspüren.

Dort wie hier besetzt Johnson besagtes Talent moralisch, markiert es zugleich als Gespür für Recht und Unrecht – und koppelt es so an eine politische Mission: Die Wahrheitssuche der Detektivin Charlie ist auch eine Ermahnung, dass die Verantwortung für die kollektive Wahrnehmung unserer Wirklichkeit im Zeitalter von Fake News und Desinformation bei jeder und jedem Einzelnen von uns liegt: Wer „Bullshit“ sieht, sollte diesen auch „callen“ – sonst haben Blender allzu leichtes Spiel.

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