Gesundheit

Dutzende Millionen Kinder bekamen wegen Covid-19 keine Impfungen

APA/ROLAND SCHLAGER
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Corona-bedingte Lücken im Gesundheitssystem und steigende Skepsis gegen Impfungen könnten zur Rückkehr von Erkrankungen führen, die durch Vakzine vermeidbar wären, warnen Ärzte in Wien. Österreich ist bei Masern und Diphtherie betroffen.

Der Welt könnte eine Welle von Ausbrüchen per Impfungen verhütbarer Erkrankungen bevorstehen. In Ansätzen ist das bereits erkennbar. Dutzende Millionen Kinder weltweit wurden nämlich in Zeiten der Covid-19-Pandemie überhaupt nicht mehr geimpft. Auch Österreich ist bei Masern und Diphtherie betroffen, erklärten am Mittwoch Experten bei einer Ärztefortbildung an der MedUni Wien.

"Es ist nicht vorbei, bevor es wirklich vorbei ist - die Rückkehr impfpräventabler Erkrankungen", lautete das Motto der Veranstaltung, federführend vom Zentrum für Pathophysiologie, Infektiologie und Immunologie (Leiterin: Ursula Wiedermann-Schmidt) der MedUni Wien organisiert. Mark Muscat von der Weltgesundheitsorganisation (WHO/Genf) nannte Besorgnis erregende Zahlen: "Durch die Covid-19-Pandemie ist es zu einem noch nie gekannten Rückfall bei den Impfungen gekommen."

Das Gesundheitswesen in vielen Staaten der Erde war durch die Pandemie überfordert. Selbst in den reichsten Ländern der Erde wurde das medizinische Leistungsangebot drastisch zu Ungunsten der Impfungen verschoben oder zurückgefahren. Viele Eltern, viele Menschen insgesamt, scheuten vor dem Gang zum Arzt oder in Ambulanzen zurück. Muscat: "Damit wurden weltweit rund 67 Millionen Kinder nur teilweise durch erhältliche Impfungen geschützt. 48 Millionen Kinder bekamen überhaupt keine Impfungen."

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Allein bei den Immunisierungen gegen Diphtherie-Tetanus-Pertussis (DTP) bekamen weltweit 18 Millionen Kinder im Jahr 2021 keine einzige Teilimpfung. Bei der Masernimpfung klafft laut dem WHO-Experten eine Lücke von 25 Millionen Kindern ohne jeglichen Impfschutz (Masern-Mumps-Röteln). "In den 53 Staaten der WHO-Europa-Region erhielten mehr als 336.000 Kinder diese Vakzine überhaupt nicht", erklärte Muscat.

Das Ergebnis ist bereits bemerkbar. Im Jänner und im Februar wurden im Jahr 2023 mit 993 Masern-Fällen in der WHO-Region Europa bereits mehr solcher Erkrankungen gemeldet als im gesamten Jahr 2022. Während der Pandemie hatten die Hygienemaßnahmen, Lockdowns, Schulschließungen etc. zu einem drastischen Rückgang von vor allem via Tröpfcheninfektion übertragbaren respiratorischen Infektionen geführt. Damit scheint aber jetzt wieder vorbei zu sein. In Kombination mit durch Covid-19 erst recht löchrig gewordenem Impfschutz könnte das doppelt problematisch werden.

Löchriger Impfschutz an Masern-Ausbruch erkennbar

Ein klassisches Beispiel dafür ist der seit Anfang des Jahres registrierte Ausbruch der Masern in Österreich. Das grassierende höchst ansteckende Virus hatte quasi eine Weltreise hinter sich, bis es in der Steiermark für eine Krankheitswelle sorgte. "Der Genotyp D8-5963 (des Masernvirus; Anm.) wurde erstmals 2020/2022 in Indien festgestellt", sagte Lukas Weseslindtner vom Zentrum für Virologie der MedUni Wien. Ende 2022 sequenzierte man den importierten Erreger dann in Australien, im Jänner dieses Jahres bereits in Frankreich. Zwei nicht geimpfte junge Männer brachten dann das Virus - unabhängig von einander - aus der Türkei nach Österreich. Eine Hochzeit mit rund 400 Gästen in der Steiermark war dann quasi "die Chance" für die potenziell lebensgefährlichen Krankheitserreger.

Die Steiermark, Wien, Oberösterreich, das Burgenland und Niederösterreich haben bisher Erkrankungsfälle registriert. "Wir stehen jetzt bereits bei 117 laborbestätigten Fällen (25. April; Anm.)", sagte der Virologe, spezialisiert auf die Sequenzierung solcher Erreger, um deren Verbreitung auf genetischer Basis exakt nachvollziehen zu können. Die Häufigkeit der Erkrankung ist mittlerweile in Österreich von ehemals 0,1 Erkrankungen pro Million Einwohner und Jahr auf einen aktuellen Wert von 12,9 pro Million Einwohner gestiegen.

36 Prozent zu wenig Antikörper gegen Diphtherie

Ähnlich problematisch ist die Situation bei Diphtherie (am besten zu verhüten per Diphtherie-Tetanus-Pertussis/DTP-Vakzine; Anm.). Diese Erkrankung glaubte man in den reichen europäischen Staaten weitestgehend unter Kontrolle zu haben. Doch auch in dieser Hinsicht ist der Impfschutz in Österreich mangelhaft.

Angelika Wagner vom Institut für Spezifische Prophylaxe und Tropenmedizin der MedUni Wien veröffentlicht heute, Donnerstag, in "Eurosurveillance" eine aktuelle Studie mit äußerst bedenklichen Ergebnissen. Sie und ihre Co-Autoren haben die Antikörperwerte von 10.247 Probanden auf Impfschutz gegen die Diphtherie und von 8.034 Personen auf per Immunisierung erreichten Schutz vor Tetanus untersucht. 36 Prozent hatte keine ausreichend hohe Konzentration an Antikörpern als Folge einer Impfprophylaxe gegen die Diphtherie. In Österreich liegt laut der Expertin die Rate der wirklich durchgeführten Grundimmunisierung gegen die Diphtherie bei 85 Prozent, in Westeuropa sind es 94 Prozent.

„Keine Intervention so umstritten wie die Impfung“

Auch hier gälte es dringend, Impflücken zu schließen. Bis zum 20. Dezember vergangenen Jahres wurden in der WHO-Europa-Region 391 Diphtherieerkrankungen registriert. Im Jahr 2022 wurden in Österreich 62 Fälle bestätigt. Rund 70 Prozent davon entfielen auf Hautinfektionen. Doch es traten auch Fälle auf, in denen die Atemwege betroffen waren. Es gab einen Todesfall.

Entgegen allen wissenschaftlichen Erkenntnissen sei "keine Intervention so umstritten wie die Impfung", hatte zu Beginn der Veranstaltung MedUni Wien-Rektor Markus Müller betont. Ärzte engagierten sich seit Jahrhunderten gegen Aberglauben. Aber offenbar zeige die Geschichte: "Aberglaube gehört zur Medizin wie der Senf zur Wurst." Schon Kaiserin Maria Theresia (1717 bis 1780) hätte übrigens nach einer von ihre angeordneten Reise ihres Arztes Gerard Van Swieten nach Transsylvanien und dessen Widerlegung der Mär von dort vorkommenden blutsaugenden Vampiren einen Erlass gegen Aberglauben herausgegeben.

(APA)

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