Die NGO Memorial wurde mit dem Friedensnobelpreis prämiert und in Russland verboten. Mitgründerin Irina Scherbakowa über die Ukraine-Invasion, die Glorifizierung der Sowjet-Geschichte und die Rückkehr der Angst vor dem Staat.
Die Presse: Ist es Putins Krieg oder Russlands Krieg?
Irina Scherbakowa: Beides, leider. Der Krieg wird im Namen des Staates geführt, und der Protest dagegen war nicht so massiv, wie ich es angesichts einer solchen Katastrophe erwartet hätte. Wobei es schon eine starke Protestbewegung gegeben hat, aber indem die Menschen die Flucht aus Russland ergriffen haben. Und warum? Weil sie, so wie ich, keine Hoffnung mehr haben, dass sich durch den Protest vor Ort momentan etwas ändern lässt.
Das Regime von Präsident Putin hat in Russland viele Anhänger. Trotz allem. Warum sind viele Russen so anfällig für die Propaganda des Kreml?
Man hat die Menschen immer mehr an die Unfreiheit gewöhnt. Schritt für Schritt. Das ging ja auch in den 1930ern in Deutschland sehr schnell. Die Machthaber bereiteten einen Hexentrank zu. Sie mischten alles in den patriotischen Kessel: Ressentiments, den Missbrauch der Erinnerung an den Großen Vaterländischen Krieg, Bildung, das Bedauern über den Zerfall der Sowjetunion und den Verlust des imperialen Status.
Ihre NGO, Memorial, hat seit Ende der 1980er-Jahre Gräueltaten des Stalin-Terrors aufgearbeitet. Trotzdem wird die Vergangenheit in Russland glorifiziert. Warum?