Interview

Zum Tag des Lärms: „Früher war es bei uns lauter als heute“

Der Buchautor Kai-Ove Kessler in lauter Aktion, als Schlagzeuger der Hamburger Hardrockband Bad Sister.
Der Buchautor Kai-Ove Kessler in lauter Aktion, als Schlagzeuger der Hamburger Hardrockband Bad Sister.Kessler
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Der Historiker und Schlagzeuger Kai-Ove Kessler hat mit „Die Welt ist laut“ eine Geschichte des Lärms geschrieben. Über kaum zu ertragende Stille, Klavierpest, ohrenbetäubende Fiaker – und warum der Urknall kein Knall war.

Die Presse: Sie sind Schlagzeuger in einer Hardrockband. Warum haben ausgerechnet Sie ein Buch über die Geschichte des Lärms geschrieben?

Kai-Ove Kessler: Weil er mich mein Leben lang beschäftigt. Schon als kleines Kind war ich lärmempfindlich. Bei uns in Norddeutschland gab es viele Tiefflieger, und ich habe geweint, wenn sie übers Land geflogen sind. Schlagzeug war das Instrument, das mich am meisten fasziniert hat, obwohl es sehr laut ist. Allerdings habe ich damit mein Gehör geschädigt: Ich hatte einen Hörsturz und leide bis heute auf beiden Ohren an einem Tinnitus. Aber das hat mich nicht davon abgehalten weiterzuspielen. Lärm ist eine subjektive Bewertung. Es gibt auch Rockfans, die klassische Musik als solchen empfinden.

Kann man ihn definieren?

Lärm ist jedes unerwünschte Geräusch, etwas, was uns nervt oder krank macht. Es muss nicht laut sein: fallende Wassertropfen, das Summen einer Mücke, die im Wind quietschende Tür – manchen fällt das gar nicht auf, anderen lässt es keine Ruhe.

Für Fans von Rock, Metal oder Punk gilt: Je lauter, desto besser. Ist das geschichtlich neu?

Es hat sich in den letzten 150 Jahren entwickelt. Bis dahin war Orchestermusik ein Privileg für Wohlhabende. Dann wuchs der Empfängerkreis, der zu beschallen war, und größere Konzertsäle erforderten größere Klangkörper. Die Elektrifizierung hat dann sogar ohrenbetäubende Lautstärke ermöglicht. In Rock und Pop drückt sie Kraft aus, Lebensfreude, überschäumende Begeisterung. Aber auch Metal-Fans mögen zwischendurch eine Ballade.

Warum reagieren wir gereizt auf Geräusche, die andere erzeugen? Ein großer Teil des Streits mit Nachbarn rührt daher. Wie erklären Sie sich das psychologisch?

Wer sich über ein Geräusch anderer ärgert, bezieht es auf sich selbst, bewertet es als Provokation, als persönlichen Angriff: „Das muss doch mir gelten!“ Die Literatur ist voll davon. Dabei ist es in den allermeisten Fällen keine Absicht, nur gedankenlos.

Umgekehrt sagte C. G. Jung: „Wir hätten den Lärm nicht, wenn wir ihn nicht heimlich wollten.“ Wie ist das zu verstehen?

Absolute Stille ist schwer auszuhalten. Die CIA hat sie als Folterwerkzeug gegen Terrorverdächtige eingesetzt. Man fühlt sich damit vereinsamt, isoliert, ohne den Schutz, den die Gemeinschaft bietet. Lärm ist auch ein Zeichen der Zusammengehörigkeit. Babys schlafen oft besser, wenn es um sie herum eher laut ist. Sie fühlen sich dann geborgen.

Wie erforschen Sie als Historiker akustische Ereignisse vor der Erfindung der Tonaufnahmen?

Das ist ein großes Problem. Vor der Antike gab es ja nicht einmal Texte. Archäologische Funde haben mir geholfen. Zum Beispiel von Mühlen: Man kann sich vorstellen, wie es klang, wenn dort Stein auf Metall geschlagen hat. Oder die Reste der „Insulae“, der bis zu siebenstöckigen Wohnblöcke im antiken Rom: Man sieht, wie dünn die Wänden waren, und wie schlecht die Schalldämmung.

War es bei uns noch nie so laut wie heute?

Nein. In Europa lag die Spitze in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, durch den motorisierten Verkehr. Anfangs war das Auto nur ein Spielzeug für Reiche. Aber ab 1950 wurde der Verbrennungsmotor zum größten Lärmfaktor. Auch die Triebwerke der Düsenflugzeuge kamen in dieser Zeit auf. Heute fliegen zwar viel mehr Flugzeuge als damals, aber sie sind um bis zu 70 Prozent leiser. Wir haben gelernt, Lärm einzudämmen, durch Schallschutz, Flüsterasphalt, Tempo-30-Zonen, elektrische Busse, Nachtflugverbote. Wir schotten uns von verbleibenden Lärminseln ab, das können wir uns leisten. Und wir haben lärmintensive Produktionen in Schwellenländer exportiert. In einer Textilfabrik in Bangladesch ist es heute so laut wie in Manchester vor 200 Jahren. Da wird keine Rücksicht genommen. Und in einer Megacity wie Neu-Delhi ist es unfassbar laut. Das ist mit nichts vergleichbar, was wir von unseren Städten kennen.

Wie haben unsere Ahnen den Straßenverkehr vor dem Auto empfunden?

Die Menschen waren davon im 18. und 19. Jahrhundert ebenso genervt wie wir heute, wenn nicht mehr. Stellen Sie sich vor: das Klappern der Hufeisen, das Poltern der eisenbeschlagenen Räder auf dem Kopfsteinpflaster, das Geschrei der Fuhrleute, das Peitschenknallen. Und das nicht von einem einzelnen Fiaker wie heute in Wien, sondern gleichzeitig von mehreren Hundert.

Sie zeigen: Es gab früher andere Lärmquellen, an die wir nicht mehr denken . . .

Allgegenwärtig waren in der Frühen Neuzeit Straßenhändler, die ihre Waren in einer Lautstärke ausgerufen haben, die heute kaum noch vorstellbar ist. Sie mussten sich ja gegen den Lärm der Konkurrenten durchsetzen, der ambulanten Handwerker, der Kutschen. Und der lauten Straßenmusikanten, häufig Zugewanderte aus den ärmsten Regionen Europas. Die Kirchenglocken läuteten fast rund um die Uhr. Dazu Glocken der Rathäuser, der Zünfte, der öffentlichen Kundmachungen. Es war eine ganz andere, aber sehr intensive Geräuschkulisse. Ab 1880 kam dann die „Klavierpest“ oder „Pianoseuche“ auf: Klaviere wurden durch die industrielle Fertigung viel günstiger. Auch für Kleinbürger und Arbeiterfamilien gehörte es bald zum guten Ton, ein Klavier zu haben. Es stand fast in jeder Wohnung, in schnell hochgezogenen Gründerzeitgebäuden mit schlechter Schalldämmung. Man hörte jeden übenden Nachbarn so, als klimperte er im eigenen Wohnzimmer. Das war ein viel diskutiertes Thema, bis in den Reichstag.

Sie sehen beim Lärm auch einen sozialen Aspekt. Inwiefern?

Das Bürgertum pflegte im 18. und 19. Jahrhundert leisere Umgangsformen. Wer laut war, galt als derb, zügellos, konnte sich nicht benehmen. So grenzte man sich vom Proletariat ab, das sich gegen die Zurückweisung wehrte – mit Lärm, als Waffe der Besitzlosen. Die Bürger fühlten sich bedroht und machten massiv mobil, mit Antilärmbewegungen. Gegründet haben sie empfindsame Intellektuelle, Wissenschaftler und Schriftsteller, die sich ohne Ruhe nicht konzentrieren konnten. Sie machten Arbeiter für den Lärm verantwortlich, also gerade jene, die am stärksten betroffen waren, in Stahlwerken und an Webmaschinen. Auch Dickens, der in seinen Romanen soziale Missstände anprangerte, war hier ein Kind seiner Zeit. Auf die Idee, die Unternehmer zu kritisieren, die ihre Arbeiter nicht schützten, kam keiner von ihnen. Deshalb hatten diese ersten Kampagnen auch keinen Erfolg.

Wer das Sagen hat, sagt es seitdem eher leise. Wie war es davor?

Früher galt: Wer laut ist, hat recht. Ohne kräftige Stimme konnte man sich vor einer Menge nicht verständlich machen und damit nicht durchsetzen. Ein Experiment am Forum Romanum hat gezeigt: Vor der Rednertribüne hatten zwar bis zu 40.000 Menschen Platz, aber nur ein paar Tausend konnten den Ansprachen ohne Mikrofon und Verstärker folgen. Übrigens war Rom damals eine extrem laute Stadt. Es waren bis zu einer Million Menschen zu versorgen, der Verkehrslärm tobte rund um die Uhr. Caesar ordnete als Diktator an, die Fahrten der Fuhrwerke in die Nacht zu verlegen, vermutlich deshalb, weil die Straßen tagsüber schon so verstopft waren. Das hat vielen Römern den Schlaf geraubt.

Gehen wir zum Schluss ganz zurück zum Start: War der Urknall ein Knall?

Er war lautlos. Mit ihm begannen ja erst Raum und Zeit, und im luftleeren Raum kann sich Schall nicht ausbreiten. Der erste Ton tauchte vermutlich wenige Hunderttausende Jahre später im Kosmos auf, als physikalisches „Echo“ des Urknalls: ein extrem tiefes Urbrummen, mit weniger als einem Hertz, was kein Lebewesen hätte hören können. Theoretisch hörbare Geräusche gab es erst auf Himmelskörpern mit Atmosphäre, auf der Erde vor rund vier Milliarden Jahren. Zum Hören aber braucht es Lebewesen mit Hörorganen – und die ersten waren Fische.

ZUR PERSON


Kai-Ove Kessler, geboren 1962, ist Historiker, Musiker und Journalist. Er arbeitet seit 20 Jahren als Redakteur beim Norddeutschen Rundfunk und hat ebenso lang zur Geschichte des Lärms recherchiert. Der Autor lebt in Hamburg.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.04.2023)

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