Mein Dienstag

Das Seidenzuckerl

Am Sonntag, vor der Volksoper, kurz vor Beginn von „The Sound of Music“, hatte ich eine dieser Erfahrungen, denen Marcel Proust in der Madeleine ein literarisches Denkmal geschaffen hatte: Ich lutschte ein Seidenzuckerl, und war prompt in meine Wiener Kindheit der 80er-Jahre zurückversetzt.

Diese bunte Vielfalt, jedes sieht ein bisserl anders aus, fast wie japanische Porzellanminiaturen, dann die hauchzarte Zuckerhülle, unter der sich eine köstliche Schokoladen- oder Nougatfüllung verbirgt – sofort waren die Bilder von damals wieder da, die Spaziergänge mit der Großmutter im Botanischen Garten, das Belvedere, die tägliche Fahrt mit dem 13A, der damals noch ein Doppeldeckerbus war, von der Schule, quer durch ein Wien, das, auch wenn das schon zum Klischee geronnen ist, viel grauer war als heute. Aber auch noch nicht so durchdesignt, wie sich viele Straßen und Gassen heute geben, mit all diesen auf ihre Individualität pochenden neuen Geschäftslokalen, die dann aber ironischerweise doch ziemlich gleich und vorhersehbar und langweilig aussehen. Oft spielen sie mit den Motiven dieser Wiener Nachkriegsvergangenheit, die Ästhetik der damaligen Geschäftsschilder wird wiederverwertet, unter anderem auch seit einigen Jahren, wie mich Google unterrichtete, um den Seidenzuckerln eine Renaissance zu verschaffen.

Solche Momente wie meine Wiedervereinigung mit dem Seidenzuckerl erinnern mich mindestens so eindringlich daran, dass ich schon länger als ein Jahrzehnt im Ausland lebe, wie die jüngste Aufforderung der Wahlbehörde, per Antrag zu belegen, weshalb ich im Auslandswählerverzeichnis bleiben möchte. Jener in Wien übrigens hierorts ein ausdrückliches Lob: Man kann hier alle Angelegenheiten rasch und einfach per E-Mail erledigen. Jedenfalls finde ich, auch wenn das nicht dem veröffentlichten Zeitgeist jener entsprechen mag, die dem alten, grauen Nachkriegswien nachtrauern, dass Österreich und vor allem seine Hauptstadt sich schon zum Besseren entwickelt haben. Und wenn mir einmal doch die guten Seiten der alten Zeit fehlen sollten, helfen mir fortan Prousts Seidenzuckerln.

E-Mails an:oliver.grimm@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.05.2023)

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