Medwedjew: Systematisches Versagen

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Terror in Russland: Innenministerium und Flughafenbetreiber schieben einander die Verantwortung für den Anschlag in Domodedowo zu. Das Gefühl, das auf Moskaus größtem Flughafen herrschte, war Ratlosigkeit.

Eine Hand lässt Valentina auf die Kante des Ladentisches gestützt, das Mobiltelefon in Reichweite, während sie Wasser, Chips und Kaugummis verkauft. Dass ihr immer wieder schwindlig wird, braucht die 33-Jährige erst gar nicht zu erklären. Auch so ist offensichtlich, dass sie unter Schock steht. Am Dienstagmorgen hat sie ihre Schicht in einem der Gemischtwarengeschäfte auf dem Moskauer Flughafen Domodedowo wieder angetreten. Am Montagnachmittag war ihre junge Kollegin dort gestanden, hatte auf dem Weg zur Pausenablöse die Empfangshalle vor dem Eingang Nummer eins passiert. Zehntelsekunden später lag sie blutüberströmt auf dem Boden. „Die Hand abgerissen, regungslos“ – Valentina verstummt. „Wie konnten die Terroristen in den Flughafen gelangen?“

Am Dienstag hätten sie es vermutlich nicht geschafft. Am Dienstag nämlich kehrten die Wachposten zu jenen Sicherheitschecks zurück, die schon nach den vorjährigen Anschlägen in der Moskauer U-Bahn verfügt worden waren. Im Laufe der Monate wurden sie immer schlampiger gehandhabt. „Aber hätte es einen Unterschied gemacht?“, fragten die Menschen gestern rhetorisch: „Dann hätten die Verbrecher eben in der Warteschlange vor den Metalldetektoren zugeschlagen.“

„Wir werden das nie vergessen“

Das Gefühl, das auf Moskaus größtem Flughafen gestern Mittag herrschte, war Ratlosigkeit. Auch Ohnmacht. Wenige Meter entfernt vom Eingang Nummer eins, wo am Vorabend bei einem Selbstmordanschlag in der wartenden Menge 35 Menschen in den Tod gerissen und bis zu 180 Personen verletzt worden waren, warteten auch gestern wieder hunderte Menschen auf ihre Lieben. „Unser ganzes Leben lang werden wir das nicht vergessen“, sagt die 47-jährige Unternehmerin Vera Nikolajewna. Ihre Schwester und Nichte sollten soeben aus Deutschland kommend gelandet sein. Konsequenzen oder Verantwortung? „Ja, irgendjemand müsste sie tragen.“

Gerade um diese Frage entspann sich am Dienstag ein unwürdiges Geplänkel. Die Flughafenverwaltung wälzte die Schuld auf das Innenministerium ab. Dieses reagierte empört. Präsident Dmitrij Medwedjew sprach von einem „offensichtlich systematischen Versagen“ auf dem Flughafen und verlangte vom Innenministerium eine Liste von Mitarbeitern der Verkehrssicherheit, die entlassen werden sollten.

Über ein Jahrzehnt des Terrors lang hatte kein Minister oder Chef der Sicherheitsdienste den Hut nehmen müssen. Und auch am Dienstag zeichnete sich ab, dass es höchstens mittlere Beamte treffen werde. „Kein Wort über Geheimdienstchef Bortnikow, kein Wort über Innenminister Nurgaliev!“, empörte sich der Starjournalist Wladimir Solowjow.

Stattdessen harte Worte: „Rache ist unausweichlich“, sagte Premier Wladimir Putin. „Das Nest der Banditen, egal wie tief sie sich eingegraben haben, muss ausgeräuchert werden“, sagte Präsident Medwedjew. Das „Nest“ der Attentäter liegt einhelligen Einschätzungen zufolge im Nordkaukasus. An Bedeutung gewann Medwedjews Befund, dass die Wachsamkeit auch nach zehn Jahren Terror immer wieder schnell nachlasse: „Anfangs mobilisieren wir die Kräfte, dann verlieren wir die Kontrolle.“ Und das angesichts internationaler Großereignisse wie der Olympischen Spielen 2014.

Terror-Rekrutierung im Kaukasus

Seit eineinhalb Jahren nehmen die Aktivitäten der Terroristen zu. Die sozialökonomische Situation im Nordkaukasus liegt trotz Moskaus Bemühungen im Argen. Entfremdung vom Zentrum, Korruption, Misstrauen gegenüber den Behörden, Wunsch nach Rache für Unrecht in den Jahren des Krieges – all das schafft den Boden, auf dem gewaltbereite Islamisten verwirrten Menschen ihre Ideologie einpflanzen. Das Attentat am Flughafen zeige, dass Russlands Geheimdienste den kaukasischen Untergrund nicht infiltrieren konnten, meint der Moskauer Geheimdienstexperte Andrej Soldatow.

Verkäuferin Valentina kann den Ort, wo ihre Kollegin von den Terroristen getötet wurde, nicht mehr sehen. „Ich schaffe es nicht“, sagt sie und stützt sich auf die Ladenkante: „Was meinen Sie, hätte man diesen Horror verhindern können?“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.01.2011)

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