Leitartikel

Eine Zukunft ohne Recep Tayyip Erdoğan ist vorstellbar

Recep Tayyip Erdoğan
Recep Tayyip ErdoğanIMAGO/APAimages
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Die Opposition stiehlt dem türkischen Präsidenten die Show. Auch wenn Erdoğans Chancen intakt sind – ein strahlender Gewinner wird er nicht mehr.

Die Umfragen sehen nicht vielversprechend aus, zumindest nicht für diejenigen, die in diesen hektischen Tagen in der Söğütözü-Straße in Ankara wirken, wo die regierende AKP ihren Sitz hat. In manchen Umfragen liegt Recep Tayyip Erdoğan deutlich hinter seinem Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu von der sozialdemokratischen CHP zurück; andere versprechen ein knappes Rennen, wobei auch dort Kılıçdaroğlu die Nase vorn hat. In einer Woche findet die Präsidentschaftswahl in der Türkei statt, und noch nie musste Erdoğan derart um seine Macht bangen. Es ist daher erstaunlich, wie gelassen sich der Präsident und seine Entourage bisweilen geben, angesichts der drohenden Kulisse – und der Brutalität vergangener Wahlkämpfe.

Aber gut, der Wahlausgang ist offen, zu diesem Zeitpunkt erscheint alles möglich. Trotz aller Umfragen und trotz der Rückschläge für die AKP im Wahlkampf. Aufgrund einer vorübergehenden Erkrankung musste Erdoğan jüngst einige Tage kürzertreten und verpasste strategisch wichtige Wahlkampfauftritte. Dass seine Partei einzig und allein auf ihn zugeschnitten ist, gereicht dieser Tage zum Nachteil. AKP-Wahlkampfveranstaltungen funktionieren nur mit Erdoğan, und allein kann der gesundheitlich angeschlagene Präsident nicht mehr das ganze Land abgrasen. Selbst seine Überpräsenz in den Medien scheint ihm diesmal nicht wirklich zu helfen. Einer Erhebung zufolge räumte der staatliche Sender TRT Erdoğan im Monat April 32 Stunden Sendezeit ein, seinem Herausforderer Kılıçdaroğlu nur magere 32 Minuten.

Und trotzdem schwimmt der als freundlich, aber trocken bekannte Herausforderer auf einer unerwarteten Popularitätswelle. Kılıçdaroğlus Wahlkampf ist erstens auf alternative Kanäle wie soziale Medien zugeschnitten, und dieser Plan ist aufgegangen. Seine kurzen Videos, in denen er politische und gesellschaftliche Grundsatzfragen ausführt, werden millionenfach aufgerufen. Zweitens muss Kılıçdaroğlu nicht allein auf das Feld. Seine Oppositionsallianz besteht aus sechs Parteien, das heißt, dass sechs Vorsitzende plus die sozialdemokratischen Bürgermeister von Istanbul und Ankara, Ekrem Imamoğlu und Mansur Yavaş, seit Wochen das Land von A bis Z durchwandern und für den politischen Wandel werben.

Die Opposition ist geeint und gewillt, das System Erdoğan zu beenden. Und das hat in der traditionell zerstrittenen und zersplitterten Parteienlandschaft eine historische Dimension, zumal sich die Allianz bisher keine größeren Fehler im Wahlkampf geleistet hat. Man darf nicht vergessen: Erdoğan war auch deswegen so stark, weil die Opposition so schwach war. Und weil die Opposition die prokurdischen Parteien immer gemieden hat – immerhin machen Kurdinnen und Kurden rund 20 Prozent der Wählerschaft aus. Auch diesen unwürdigen Zustand will Kılıçdaroğlu überwinden, zumindest hat er das wortreich versprochen. Prokurdische und kleinere Linksparteien unterstützen ihn als Präsidentschaftskandidaten.

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