Gastkommentar

Als Österreich wie Putin war

Geschichte. Ein Blick auf Österreichs Balkanpolitik vor 1914 zeigt Parallelen zum Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine.

Um die serbisch-kroatische Nationalbewegung mit dem Ziel der Vereinigung aller Südslawen zu schwächen, annektierte Österreich 1908 Bosnien-Herzegowina. Die Annexion verfehlte jedoch ihre Ziele: Sie verstärkte den südslawischen Nationalismus, und Russland trat von nun an verstärkt als Schutzmacht für Serbien auf. Sie bewirkte auch keine Mäßigung der Falken in Wien, sondern im Gegenteil ihre weitere Radikalisierung. Angeführt vom Chef des Generalstabs, Conrad von Hötzendorf, kamen sie zur Ansicht, nur ein Krieg gegen Serbien würde das Problem des südslawischen Nationalismus lösen und die Welt von der Schlagkraft der Monarchie überzeugen. Die Friedenspartei, von Kaiser Franz Joseph, Thronfolger Franz Ferdinand und dem ungarischen Ministerpräsident István Tisza angeführt, fand sich zunehmend in der Minderheit. So wie die österreichische Kriegspartei wurde auch Wladimir Putin durch die Besetzung von Teilen Georgiens und Transnistriens nicht gemäßigt, sondern griff danach auch die Ukraine an.

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Radikalisierung Österreichs

Wieso diese Radikalisierung, sowohl bei Putin als auch im Falle Österreichs? In beiden Fällen beurteilten die Machthaber die Lage nach ihren ideologischen Vorstellungen statt nach der Realität. Putins Ideologie verlangt die Wiederherstellung des Territoriums der Sowjetunion, jene Österreichs erforderte die Erringung der Vorherrschaft auf dem Balkan. Dementsprechend extrem fiel die Reaktion Österreichs auf die Ermordung Franz Ferdinands im Juni 1914 aus. Die Kriegspartei in Wien war entschlossen, die Tat zu nutzen, um den lang ersehnten Krieg gegen Serbien zu führen. Der Historiker Christopher Clark meint sogar, dass Conrad von Hötzendorf darauf zählte, dass ein Sieg gegen Serbien ihm das Prestige verleihen würde, um seine noch verheiratete Geliebte, Gina von Reininghaus, heiraten zu können.

Eine weitere Parallele zwischen Österreich im Jahr 1914 und Putins Krieg gegen die Ukraine ist die Überschätzung der Fähigkeiten der eigenen Armee und die Unterschätzung der Reaktion des Auslandes auf die eigene Aggression. Eine österreichische Armee von 140.000 Mann marschierte im August 1914 in Serbien ein, erlitt jedoch eine demütigende Niederlage und musste sich zurückziehen.

Zwei Mal Rückzug

Auch zwei weitere österreichische Feldzüge im selben Jahr endeten mit einem Rückzug. Sie alle sind als Musterbeispiel der Niederlage einer theoretisch überlegenen Armee in die Militärgeschichte eingegangen. Die Armee Putins hat mittlerweile ein weiteres Beispiel geliefert. Was die österreichische Unterschätzung der Reaktion des Auslandes, im gegebenen Fall Russlands, auf die Kriegserklärung an Serbien betrifft, so führte diese bekanntlich zum ersten Weltkrieg.

Die Serben, obwohl schlechter ausgerüstet, hatten den Vorteil der Defensive, der besseren Moral ihrer Truppen, des solidarischen Widerstandes der Zivilbevölkerung gegen die Invasion und einer fähigeren militärischen Führung durch ihren Generalstabschef, Radomir Putnik, der bereits den siegreichen Krieg Serbiens 1912 gegen das Osmanische Reich geleitet hatte. Der Prager Journalist und Schriftsteller Egon Erwin Kisch, der als Korporal am ersten Feldzug der österreichischen Armee teilnahm, schrieb am 14. August in sein Tagebuch:

„Unsere Verluste sind außerordentlich hoch. Der erste Gefechtstag hat uns alle drei Bataillonskommandanten gekostet (. . .) die meisten [höheren Offiziere] saßen während des Marsches zu Pferde, als ob sie (. . .) ein besonders deutliches Ziel zeigen wollten. Einige trugen Feldbinden, alle Säbel, die kilometerweit blitzten.“

Schwere Kriegsverbrechen

Die österreichische Armee machte sich auch schwerer Kriegsverbrechen schuldig. Der Deutsch-Schweizer Kriminologe Rudolf Archibald Reiss dokumentierte 4000 ermordete Zivilisten in Serbien.

Im Dorf Sabac wurden 80 gefangene Zivilisten, darunter Kinder, am 17. August 1914 erschossen oder mit Bajonetten erstochen, als eine österreichische Einheit, die sich auf dem Rückzug von der verlorenen Schlacht bei Cer befand, sich an der Bevölkerung rächte. Man ist an die Verbrechen russischer Soldaten an der Zivilbevölkerung vor ihrem Abzug aus Butscha im März 2022 erinnert.

Hinabschauen auf die anderen

Was erklärt die vielen Parallelen zwischen Österreichs Krieg gegen Serbien 1914 und Russlands Krieg gegen die Ukraine heute? In beiden Fällen war der Angreifer überzeugt, der Überlegene zu sein, und zwar nicht nur militärisch, sondern auch kulturell. Die deutschsprachigen Österreicher, die das Gros der Führungsschicht stellten, betrachteten sich darüber hinaus gegenüber allen Slawen als höherwertig, sowohl jenen innerhalb der Monarchie als auch jenen in den Nachbarstaaten. Ebenso verhielt es sich mit den Ungarn in ihrem Landesteil.

Österreichs Veto

Spuren jenes Hinabschauens auf die Balkan-Völker finden sich noch heute in Österreich. Ein aktuelles Beispiel ist das inhaltlich nicht begründbare Veto der Regierung Nehammer gegen den Beitritt Rumäniens und Bulgariens zum Schengenraum der Europäischen Union. Die beiden Länder müssen als Beweis für die Härte des Kanzlers in Asylfragen herhalten – so wie die Bestrafung Serbiens 1914 die Virilität der Monarchie beweisen sollte. Wie die Geschichte jedoch zeigt, kommt Hochmut vor dem Fall – damals wie heute.

Dr. Amos Michael Friedländer (*1957) ist Volkswirt, von 1990 bis 1998 war er bei Nomura beschäftigt. Seitdem ist er unternehmerisch tätig, unter anderem als Co-Gründer der Restaurantkette Akakiko.

E-Mails an:debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.05.2023)

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