Interview

Andrej Kurkow: "Bis zu Putins Tod kann dieser Krieg nicht enden"

„Alle Grauzonen sind ausgelöscht“: Andrej Kurkow, derzeit in Stanford, kommt Ende Juni nach Kiew zurück.
„Alle Grauzonen sind ausgelöscht“: Andrej Kurkow, derzeit in Stanford, kommt Ende Juni nach Kiew zurück.Frank May / dpa Picture Alliance
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„Die russische Sprache gehört nicht Putin“, sagt Bestsellerautor Andrej Kurkow: Er selbst sei derzeit „kein Schriftsteller mehr, sondern ein Erklärer“. Ein Gespräch über den Krieg, Putin-Versteher und das andere Russland.

Sie sind seit Beginn des Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine als Stimme Ihres Landes unterwegs. Derzeit sind Sie in Stanford und unterrichten ukrainische Literatur, während Ihre Familie in der Ukraine ist. Wie geht es Ihnen?

Stressig. Ich bin noch bis Ende Juni hier, aber dazwischen war ich in Leipzig bei der Buchmesse, dann fliege ich nach London, bevor ich nach Kiew zurückkehre. Dort erwarten alle die ukrainische Offensive.

Was erfährt man darüber?

Das ist ein streng gehütetes Geheimnis. Aber die Menschen werden zunehmend ungeduldig, denn sie hoffen, dass damit das Ende des Krieges kommt.

Kann dieser Krieg überhaupt auf dem Schlachtfeld entschieden werden?

Ich glaube, bis zum Tod von Putin gibt es keine Möglichkeit, den Krieg zu beenden.

Putin ist nicht allein im Kreml. Kann man erwarten, dass sich Russland ohne ihn aus der Ukraine zurückzieht?

Russland ist in einer tiefen Krise. Nach Putin wird es zu offenen Kämpfen zwischen der Führung des Inlandsgeheimdienstes FSB, dem Militärgeheimdienst GRU und der Armee kommen. Die vierte Macht sind die Oligarchen. Sie sind die Einzigen, die wirklich an einem Ende des Kriegs interessiert sind, denn sie haben immer noch viel zu verlieren. Aber jetzt üben sich alle aus Angst in Loyalität. Es gibt eine Reihe von seltsamen Todesfällen, die zeigen, dass Putin genau versteht, von wo ihm Gefahr droht.

Wird die Ukraine, wenn der Krieg dereinst zu Ende ist, zur Aussöhnung bereit sein? Und wird Russland fähig sein, die Aggression gegen Ihr Land zu beenden?

Das wird Generationen dauern. Der Hass gegen alles Russische ist heute so stark, es wird Jahrzehnte dauern, ihn zu überwinden. Und die russische Gesellschaft wird eine lange Phase der Reflexion brauchen, um zu verstehen, was sie mit diesem Krieg angerichtet hat, und ihre Schuld anzuerkennen. Solange wird es keine Aussöhnung geben.

Im Roman „Graue Bienen“ beschreiben Sie die Ostukraine nach dem Krieg 2014 anhand eines Dorfs, das nur mehr zwei Bewohner hat, wo die Zeit quasi eingefroren ist und die Menschen ohne Lösung des Konflikts irgendwie weiterzuleben versuchen. Könnte das ein Szenario sein, das auf die Ukraine erst zukommt?

Ich hoffe und glaube das nicht. Heute gibt es nicht einmal mehr eine graue Zone. Die Möglichkeiten, die wir nach 2014 noch hatten, den Krieg in einem Niemandsland irgendwie zu überleben, gibt es nicht mehr. Alle Grauzonen sind ausgelöscht.

Sie haben davon gesprochen, wie groß heute der Hass auf alles Russische in der Ukraine ist. Sie selbst verstehen sich als Ukrainer, der in russischer Sprache schreibt. Und Sie haben auch erzählt, wie sehr Ihnen heute in der Ukraine umstrittene Autoren wie Bulgakow oder Solschenizyn die Augen geöffnet haben.

Die russische Sprache gehört nicht Putin. Aber die sogenannten russischen Liberalen stehen vorwiegend immer noch auf der Seite des Kreml. Es gibt eine kleine Zahl Intellektueller, die öffentlich sagen, dass Russland völlig neu aufgebaut werden und seine Schuld anerkennen muss. Ich denke an Vladimir Sorokin, Michail Schischkin oder Boris Akunin. Es ist wichtig, ihre Stimmen zu hören. Aber es ist ein Fehler, sie als die Vertreter des heutigen Russlands zu verstehen. Europa sucht gute Russen, die man als das andere Russland unterstützen kann. Doch die Wahrheit ist: Es gibt kein anderes Russland. Erst wenn Sorokin, Schischkin und Gleichgesinnte nach dem Krieg nach Russland zurückkehren und Verantwortung übernehmen, wird es ein anderes Russland geben.

In Russland gibt es aber auch mutige Menschen wie Alexei Nawalny, Wladimir Kara-Mursa oder Ilya Jaschin, die lange Haftstrafen auf sich genommen haben, weil sie dem Kreml widersprochen haben. Setzen Sie keine Hoffnung auf diese Menschen?

Sie sind tatsächlich das andere Russland. Nawalny schreibt heute etwa ganz anders über die Krim. Dostojewski hat geschrieben, dass das Gefängnis Russlands beste Bildungseinrichtung sei.

Auf der Suche nach dem wahren Russland gibt es im Westen, besonders im deutschen Sprachraum, Russland- oder sogar Putin-Versteher, die Frieden um jeden Preis wollen. Wie ist das zu erklären?

Russland hat wohl nicht umsonst hohe Summen ausgegeben, um mithilfe seiner Kultur sein Image zu polieren. Es gibt eine große Armee der Russophilen, die unter dem Mantel der russischen Kultur alles zu verstehen bereit sind. Im deutschen Sprachraum hat das sicher immer noch mit dem Zweiten Weltkrieg zu tun. Man möchte alte Schuld mit neuer Liebe kompensieren.

Haben Sie angesichts der Leiden und Zerstörung des Kriegs Verständnis für den Ruf nach sofortigem Frieden?

Darauf habe ich nur eine Antwort: Wenn die Ukraine ihre besetzten Gebiete nicht zurückbekommt, heißt das, dass die Ukraine und auch Europa den Krieg verloren haben. Es würde bedeuten, dass das Recht und demokratische Werte in Europa keine Rolle mehr spielen. Russland kann dann Europa stets weiter nach Belieben unter Druck setzen.

Manche sagen, das Regime in Russland sei faschistisch, andere meinen, solche Vergleiche seien nicht zielführend.

Man muss das klar benennen. Die faschistischen Tendenzen sind offensichtlich. Zu Hitlers Geburtstag am 20. April veröffentlichte die russische Führung ein neues Propagandavideo, da sieht das Idol für die russische Jugend genau so aus, wie sich Hitler das für die Deutschen vorgestellt hat: blond, blauäugig, arisch. Und natürlich erinnert ein Z auf einem russischen Panzer an ein Nazi-Hakenkreuz. Wer das nicht sehen will, kann aber auch russische Politiker zitieren, die verlangen, dass das ukrainische Volk vernichtet und unsere Kinder getötet werden müssen. Ein Volk, ein Reich, ein Todfeind. Das Ziel ist es, das ganze ukrainische Volk mit seiner Geschichte, Kultur und Identität zu vernichten.

In einem Aufsatz haben Sie über zwei Großmütter geschrieben: Eine hat sich nach Kriegsbeginn ein patriotisches Tattoo machen lassen. Der anderen wurde das Haus zerbombt, nur mehr der Ofen funktioniert, doch darin bäckt sie nun unverdrossen das traditionelle ukrainische Osterbrot. Wird Russland daran scheitern, die Glut des ukrainischen Lebens auszulöschen?

Das glaube ich fest. Dieser Ofen ist nicht nur eine Metapher. Die Menschen bauen das Land bereits wieder auf, viele kehren zurück und packen an. Russland hat unser Feuer stärker gemacht.

Sie haben einmal gesagt: Der Krieg ändert die Rolle, die jeder Einzelne zu spielen hat. Auch für Sie persönlich?

Ich bin kein Schriftsteller mehr. Ich bin jetzt ein Erklärer: Ich schreibe Artikel, gebe Interviews, halte Vorträge. Zudem hat mich der Krieg zu einem Nomaden gemacht, der nichts so sehr möchte, als nach Hause zurückzukehren und in Frieden zu leben.

Sie preisen an der ukrainischen Literatur den Humor in manchmal verzweifelter Lage. Haben Sie ein Beispiel?

Biden, Macron und Putin kommen in die Hölle. Bevor sie ihren letzten Gang antreten, wird zuerst Biden in ein kleines Büro mit einem alten Telefon geführt. „Wollen Sie noch einmal auf der Erde anrufen?“, fragt der Teufel. „Es kostet eine Million Dollar pro Minute.“ „Okay“, antwortet Biden, „melden Sie ein Gespräch an, bei dem der Empfänger zahlt, und verbinden Sie mich mit dem Weißen Haus.“ Als Nächstes kommt Macron dran. Der Teufel verlangt eine Million Euro. Macron sagt: „Verbinden Sie mich mit dem Élysée und schicken Sie die Rechnung an den Palast.“ Schließlich wird Putin gefragt. Er will im Kreml anrufen. „Das macht fünf Kopeken“, sagt der Teufel. Biden und Macron beschweren sich empört. Doch der Teufel erwidert: „Sie haben ein Ferngespräch gemacht. Bei Putin ist es ein interner Anruf.“

Andrej Kurkow, 62, ist einer der bekanntesten ukrainischen Schriftsteller der Gegenwart, seine Werke wurden in fast 50 Sprachen übersetzt. Geboren ist er in der Region Leningrad, doch er lebt seit frühester Kindheit in Kiew. Er ist Ukrainer, spricht sieben Sprachen, schreibt aber seine literarischen Werke auf Russisch.

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