Gastkommentar

Wenn Wildtiere zu „Problemtieren“ werden

(c) Peter Kufner
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Der Bär, der neuerdings auf der Anklagebank sitzt, erinnert an die gruseligen Tierprozesse des Mittelalters.

Der Autor

Prof. DDr. Antal Festetics (geboren 1937) studierte Zoologie in Wien und lehrt Wildbiologie an der Universität Göttingen. Er war Begründer des WWF-Österreich, Initiator des Nationalparks Neusiedler See und „Hainburg-Kämpfer“ für den Nationalpark Donauauen. Einem größeren Publikum wurde er durch seine TV-Serie „Wildtiere und wir“ bekannt.

Kürzlich ist ein junger Mann im norditalienischen Trentino beim Joggen von einem Bären getötet worden. Es gab keine Zeugen, aber am wahrscheinlichsten ist folgendes Szenario: Der Jogger lief im Wald durch das Territorium einer Bärin mit ihrem Nachwuchs. Das Muttertier witterte dabei Gefahr für ihre drei Jungbären und attackierte deshalb instinktiv den rasenden Zweibeiner.

Aus der Bärenperspektive betrachtet, war der Jogger offenbar ein Provokateur, soll heißen ein Eindringling in das Bärenrevier. Der Bärin Motiv war nicht Prädation, sondern Aggression, der Jogger war für sie keine potenzielle Beute, sondern eine akute Bedrohung ihrer Kinder.

In den Nationalparks der USA lernen Waldläufer auf Bärenattacken richtig zu reagieren: sich rechtzeitig als friedfertig kenntlich zu machen, um den Bären sein Gesicht wahren und den geordneten Rückzug gewähren zu lassen. Langsam weitergehen und in Zimmerlautstärke plaudern.

Greift der Bär trotzdem an, dann sich auf den Boden legen und möglichst klein machen. Der Bär beschnüffelt die Kleidung, welche nicht nach seinem Geschmack ist und belässt in der Regel den Touristen bei seiner Todesangst.

Schweine am Galgen

Der so tragisch ums Leben gekommene Jogger im Trentino hat mit großer Wahrscheinlichkeit gänzlich falsch reagiert. Davonzulaufen und daraufhin vom Bären eingeholt sich handgreiflich zu wehren provoziert das besorgte Muttertier zum Prankenhieb und Zubeißen.

Das ist freilich kein Trost für die Angehörigen des tödlich verunglückten Waldläufers, denen unser allertiefstes Mitgefühl gilt. Möglicherweise aufkeimende Rachegefühle der Bärin gegenüber sind allerdings fehl am Platz, denn was diese tat, war interspezifisches Töten einer anderen Art und kein intraspezifisches Ermorden eines Artgenossen.

Nun ist der Bär schlussendlich in die Falle getappt, der Täter wurde damit gefasst, und er soll einem Richter vorgeführt werden. Ein Gericht soll entscheiden, ob die Todesstrafe oder die lebenslange Haft für den „Joggermörder“ angemessener ist und ein fassungsloses Publikum fühlt sich dabei ins Mittelalter versetzt!

Hat nämlich damals ein streunendes Hausschwein zum Beispiel ein Kleinkind totgebissen oder ein wild gewordener Bulle etwa seinen Bändiger mit den Hörnern aufgespießt, so wurde diesen Viechern wie Menschen die Anklageschrift vorgelesen und ihnen mit vatikanischem Beistand der Prozess gemacht.

Mit Staatsanwalt, Verteidiger, Richter und Geschworenen. „Schuldhafte“ Tiere landeten zur Gaudi der Zuschauer am Galgen, wurden ertränkt oder erschlagen. Exorzistische Kirchenmänner stellten Heuschreckenschwärmen ein Ultimatum zum Abzug unter Androhung von Verbannung.

Der dialektische Widerspruch dieser obskuren Tierprozesse bestand darin, dass zum einen der Mensch als Ebenbild Gottes sich von der Tierwelt energisch distanzierte, zum anderen er jedoch die Tiere durch Unterstellung eines Rechtsbewusstseins vermenschlicht hat.

Isegrim und Meister Petz

Der Bär im Trentino, welcher in diesen Tagen auf der Anklagebank landen soll, erinnert gespenstisch an jene gruseligen Rechtsverfahren des Mittelalters. Seine Artgenossen, die nach langer Verbannung zu uns allmählich heimkehren, laufen ständig Gefahr, zu Sündenböcken erklärt zu werden. „Plündert“ etwa ein Bär am Dorfrand die Bienenstöcke oder am Stadtrand die Mülltonnen, so wird dieser von Provinzpolitikern zum „Problembären“ erklärt.

Meister Petz, der hochintelligente und äußerst lernfähige Allesfresser, ernährt sich, wie Wildtiere allgemein, rational und kräftesparend. Bienenstöcke und Mülltonnen laufen nicht davon, sie sind einfach zugängliche und lohnende Alternativen zum mühsamen Verfolgen von Schafen oder Rehen. So gesehen ist prinzipiell jeder Bär ein potenzieller „Problembär“, was jedoch unsere „Problempolitiker“ in Österreich aus wahltaktischen Erwägungen nicht wahrzuhaben gewillt sind.

In Deutschland dagegen macht aktuell der böse Wolf Schlagzeilen und er beschäftigt sogar den Bundestag in Berlin. Isegrim aus Grimms Hausmärchen ist freilich kein Migrant, wie fälschlich unterstellt, sondern Heimkehrer, welcher die Biodiversität im Lande erhöht.

Entgegen dem aufkeimenden Rotkäppchensyndrom haben Wölfe in Deutschland noch keinen einzigen Menschen umgebracht, im Gegensatz zu Hunden, die jährlich rund 30 bis 40 Menschen totbeißen. Trotzdem fordert niemand für Hunde eine „letale Regulierung“ mit der Waffe.

In der Schule haben wir gelernt, dass Wölfe sich nicht von Salat oder Grütze ernähren, sondern karnivore Prädatoren sind. Trotzdem geht bereits jedesmal von Neuem empörtes Raunen durch das Land, wenn ein Wolf an einem von ihm erbeuteten Lamm seinen Hunger stillt. Politiker, die sich „umweltbewusst“ gebärden, beschwören, sie hätten nichts gegen den Wolf, aber (!) und dieses aber wird ihnen von Interessenverbänden diktiert.

Wölfe oder Wähler wichtiger?

Der Volksvertreter muss im Hinblick auf seine Karriere entscheiden, ob ihm beim Wahlkampf die Wölfe oder die Wähler wichtiger sind.

Ein Wolf braucht rund ein Kilo Fleisch pro Tag, um überleben zu können. Reißt er ein Schaf auf der Weide, protestieren die Viehhalter nach dem Florianiprinzip: Prädation ja, aber bitte nicht bei uns, sondern anderswo.

Also weicht der Wolf in den Wald aus, um sich von Rehen ernähren zu können. Da sind es wiederum die Waidmänner, welche aus Beuteneid lauthals aufschreien: Nichts gegen den Wolf, aber die begehrten Trophäenträger wollen wir doch gern selbst schießen, anstatt diese der vierbeinigen Konkurrenz zu überlassen.

Wohin soll der Wolf weichen?

Was soll nun der Wolf schlussendlich tun, wohin könnte er noch ausweichen, um hierzulande existieren zu können? Am besten jagt er nur Feldmäuse auf Stoppelfeldern oder Ratten auf Müllplätzen. Damit kann er sich als nützlicher Neuling in unsere Gesellschaft integrieren und seinen bürgerlichen Pflichten brav nachkommen!

Nun aber Spaß beiseite. Wildtieren Hausaufgaben zu verordnen zeugt von Ignoranz der Natur gegenüber, womit hier unsere nicht menschlichen Mitgeschöpfe gemeint sind, für die wir die volle Verantwortung tragen.

Geht es dabei um sogenannte Raubtiere, so ist es beschämend, von wesentlich ärmeren Ländern in Afrika oder Asien zu fordern, sie mögen ihre Löwen und Leoparden erhalten, während wir in unserem Wirtschaftswunderrausch nicht einmal bereit sind, den heimkehrenden Bären und Wölfen das Heimatrecht zuzugestehen.

Kein Reifezeugnis für die Krone der Schöpfung, wie wir uns in maßloser Selbstüberschätzung selbst getauft haben!

E-Mails an:debatte@diepresse.com

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.05.2023)

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