Der erste Song-Contest-Abend der Woche ist vorüber. Ein Wiedersehen mit alten Bekannten. Mit Loreen aus Schweden etwa. Aber auch mit Folklore-Flöte, Hairography, Instrumentenpanne und dem Grenzgang zwischen Genie und Wahnsinn - wie bei Loreens Konkurrenz aus Finnland.
Die Grenze zwischen Genie und Wahnsinn ist doch selten so klein wie beim Eurovision Song Contest. Genauso wie die Grenze zwischen sinnvoller Songanalyse und Zerpflücken eines dreiminütigen Lieds. Geschmäcker und so. Musik wird nie so gnadenlos bewertet wie in der Song-Contest-Woche. Was vielleicht auch daran liegt, dass man der eigenen Musik-Bubble entkommen muss, bzw. sich freiwillig Liedern anderen Musikstils aussetzt. Die Eurovision-Song-Contest-Playlist ist eben frei von Spotify- und anderen Algorithmen und persönlichen Vorlieben.
Und auch wenn sich ein Erfolgsrezept schwer in konkrete Worte fassen lässt, ist es doch offenbar eine Art von Authentizität, die Erfolg beim größten Musikwettbewerb der Welt verspricht. Authentizität im Genre, in der Performance, der Botschaft, des Gesangs - ja selbst der größte Party-Elektro-Kracher oder schräge Punk-Protestsong kann eine Art ehrlichen Vibe ausstrahlen. Und hier hat sich seit den düsteren Nullerjahren dieses Jahrhunderts definitiv viel geändert im ESC-Teilnehmerfeld.
Ukraine stand im Fokus
Apropos düstere Jahre. Kriegsbedingt findet die Show im englischen Liverpool statt, trotz Vorjahressiegs des ukrainischen Kalush Orchestra mit „Stefania“. Doch die Ukraine steht auch in England im Fokus, etwa mit der Eröffnungsnummer oder der ukrainischen Moderatorin Julia Sanina (als Teil eines Trios mit den britischen Kolleginnen Alesha Dixon und Hannah Waddingham). Oder mit der berührenden ersten Showeinlage in der Votingpause, als die ukrainische Sängerin Alyosha mit der britischen Kollegin Rebecca Ferguson den 30 Jahre alten Duran-Duran-Song „Ordinary World“ sangen. Die in Saporischschja geborene Alyosha musste ihren Mann in der Ukraine zurücklassen, was auch Teil der Video-Inszenierung war.
Der Song Contest ist natürlich auch politisch. Auch wenn den Teilnehmern wie gewohnt politische Botschaften untersagt sind - es gab sie trotzdem. Der Krieg bewegt Europa. Kein Wunder, dass er Niederschlag in der Kunst findet, wenn auch Russland oder Präsident Putin nie direkt in den Texten und Inszenierungen vorkommen, der Krieg, die Angst, die Diktatoren tun es.
Die Show-Maschinerie lief wie seit Jahren gewohnt gut getaktet. Zwei Stunden inklusive Voting und knackiger Bekanntgabe der Aufsteiger. Nach 80 Minuten waren die 15 Songs absolviert. Um kurz nach 23 Uhr war klar, für wen die Song-Contest-Woche schon wieder vorüber ist. Darüber hat übrigens heuer erstmals ausschließlich das votierende Publikum entschieden. Die Jury hat 2023 nur im Finale mitzureden.
Mit bravem Pop kommt man nicht weit
Überraschungen blieben - vielleicht auch gerade deshalb - aus. Die große Favoritin aus Schweden, Loreen, wird ebenso im Finale am Samstag singen, wie einer ihrer laut Buchmachern größter Herausforderer: Käärijä aus Finnland. Loreen setzt auf ihr Erfolgsrezept ihres Song-Contest-Siegs von 2012: Power-Ballade, raffiniert aufgebaut, unverwechselbares Charisma und kraftvolle Stimme - und etwas eigenartige Bewegungen, die in Erinnerung bleiben. Ein Gesamtkunstwerk des Pops. Wir hatten da aber doch schon „Euphoria“.
Das gegrölte „Cha Cha Cha“ von Käärija wird man zwar in Liverpool dieser Tage noch oft von Fans zu hören bekommen, im Radio hierzulande hingegen eher weniger. Es ist eines dieser Song-Contest-Gesamtkunstwerke, die vor allem für diese spezielle Show funktionieren. Ein bisschen Exzentrik, ein wiedererkennbares Outfit (giftgrüne Ärmel), ein Beat, der zum Tanzen anregt, samt sich oft wiederholender Teil zum Mitschreien. Die plötzliche Charakter-Wandlung des Lieds von Ramstein zu Vengaboys bleibt allerdings ein Rätsel. Ob Käärija Loreen wirklich fordern kann, wird sich erst am Samstag weisen. Aber vielleicht sind Zuseher und Jury im Finale auch eher geneigt, etwas Neuem eine Chance zu geben.
Dazwischen tummelte sich ein Teilnehmerfeld von brav bis erwartbar, von harten Beats zu brüchigen Emotionen. Die Wettquoten sollten auch recht behalten, was das Ergebnis betrifft. Was in Erinnerung bleibt: Die Choreografie in den letzten 30 Sekunden des israelischen Beitrags von Noa Kirel zum Beispiel. Gut, dass sie danach nicht mehr singen musste. Die langen Zöpfe der Tschechinnen haben mehr Eindruck hinterlassen als ihr Lied. Der absurde kroatische Beitrag ist ebenso schon legendär: Diktatoren in Feinripp-Unterwäsche auf Rasenmähertraktoren. Ein gerissener Instrumentengurt des Bassisten-Zwillings aus Aserbaidschan war die einzige Panne, die ersichtlich war. Man litt mit. Auffällig jedoch: So richtig in den Gatsch gegriffen hat niemand - weder inszenatorisch noch gesanglich. So richtig peinlich war's nie. Und es gibt sicher Song-Contest-Fans, die das irgendwie bedauern.
Im Finale am Samstag stehen:
Kroatien, die schräge Antikriegshymne
Moldau, der energievolle Flöten-, Trommel-, Ethnomix
Schweiz, die gefühlvolle Powerballade
Finnland, der Cha-Cha-Co-Favorit
Tschechien, die Zopfakrobatik-Schwestern
Israel, das Lied ohne Refrain mit dem Tanzfinale
Portugal, die Uptempo-Folklore-Revue
Schweden, die einzigartige Finalsieg-Favoritin mit den langen Fingernägeln
Serbien, die melodielose Ghostbusters-Performance
Norwegen, die tanzbare Wikinger-Hymne