Kunstlicht

Hier geht es nicht um Kindermissbrauch, sondern um Kunstmissbrauch

Palais de Tokyo
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In Paris hat ein pensionierter Front-National-Politiker ein Bild von Miriam Cahn beschüttet. Der Grund: Es verherrliche Kindesmissbrauch.

Es war die einzig richtige Reaktion auf diesen rechtspopulistischen Erguss auf die Freiheit der Kunst: Das mit lila Farbe bespritzte Bild einfach hängen zu lassen. Das geschieht derzeit in Paris, im Palais de Tokyo, wo die kompromissloseste Malerin der Gegenwart eine große Einzelausstellung hat: Miriam Cahn.

Malerin, Baslerin, 73 Jahre alt. Klingt nicht nach Radikalität? Sie haben keine Ahnung. Außer Sie waren 2019 im Kunsthaus Bregenz, wo Cahn ihre einzige größere Einzelausstellung in Österreich hatte. Oder haben voriges Jahr die Edvard-Munch-Ausstellung in der Albertina aufmerksam begangen, wo Cahn einen eigenen Raum als Referenz bekam.

Wie Munchs Bilder handeln auch die Cahns von der nackten Existenz. Von geisterhaften Menschen-Amöben, die sich nur in basaler Gestik ausdrücken können. Geht es doch um Gewalt, Sex, Krieg, Flucht, Folter, Tod.

Cahn ist eine dezidiert politische Künstlerin, eine aggressive, wie sie sagt. Schon seit ihren Anfängen in der aktivistisch-feministischen Szene der Siebziger, als sie auf Basler Brückenpfeilern zeichnete und verfolgt wurde. Heute aber hängen ihre verstörenden Bilder, die sie in einem kargen Betonatelier in den Schweizer Bergen schafft, in Museen, an Orten der Kunst, wo sie vermittelt werden.

Auch der pensionierte Front-National-Politiker wusste genau, wo er vorigen Sonntag hinging, mit der in ein Medikamentenfläschchen abgefüllten lila Farbe (der Farbe der Feministinnen, wie zynisch). Und er wusste genau, worauf er sie schleudern wird: Auf Cahns Verarbeitungen russischer Kriegsverbrechen in der Ukraine. Die Nachricht über Menschen, die vor ihrer Ermordung vergewaltigt wurden, brachte Cahn dazu, eine solche Szene aus der „Abstraktion“ des Berichts in die (imaginierte) Darstellung zu holen. „Fuck Abstraction“ nannte sie diese daher: die erzwungene Fellatio einer gefesselten kleinen Gestalt von einer größeren nackten (die kunsthistorische Darstellung von Machtverhältnissen in Bedeutungsperspektive zitierend). Schon im März sprach ein französisches Gericht das Bild von ersten verbalen Angriffen „frei“ – Kinderschutzgruppen hatten ausgerechnet darin Verherrlichung von Kinderpornografie erkennen wollen. Eine Woche, bevor die Ausstellung geschlossen wird, wurde Cahns Kunst jetzt auch tätlich für eine andere Agenda missbraucht. Diesmal von der politisch dezidiert rechten Seite, die sich als Mäntelchen den Schutz von Kinderrechten umhängt. Das Bild wird es mit historischer Fassung tragen. Es wird durch seine Schändung nur zum doppelten Denkmal der Wut.

E-Mails an: almuth.spiegler@diepresse.com

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