Essay

Wieso glaubt ihr, dass Lesen ein Segen sei?

G.A.Hennig /'Lesendes Maedchen' - G. A. Hennig / 'Reading Girl' -
G.A.Hennig /'Lesendes Maedchen' - G. A. Hennig / 'Reading Girl' -akg-images / picturedesk.com
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Viele meinen: Weil Literatur den Horizont weitet, führe sie zu mehr Empathie und Toleranz. Macht sie uns zu besseren Menschen? An Gegenbeispielen mangelt es nicht, und frühere Zeiten waren da weit skeptischer. Sollten wir es auch sein?

Lesen kann sehr schädlich sein: Davon war man gegen Ende des 18. Jahrhunderts fest überzeugt. Im deutschen Sprachraum brach damals eine neuartige Seuche aus. Als „Lesesucht“ fand sie rasch Eingang ins Wörterbuch: „die unmäßige, auf Kosten nötiger Beschäftigungen befriedigte Begierde, sich durch Bücherlesen zu vergnügen“. Im schlimmsten Fall verlief sie tödlich, wie bei der Selbstmordwelle, die Goethes bittersüßer „Werther“ ausgelöst haben soll. Als Risikogruppen galten Jugendliche und Frauen.

Ein Prediger diagnostizierte ein „überfülltes Gedächtnis“, das eine „unüberwindliche Trägheit“ und „Ratlosigkeit der Seele“ bewirke. Ein anderer warnte, die „gewaltsame Abwechslung von Vorstellung und Empfindungen“ führe zu Schlaffheit, „Verstopfung in den Eingeweiden“, und am Ende verlöre das Opfer „die Kontrolle über seine Geschlechtstriebe“. Romanlektüre verband sich mit Onanie, als weiteres „einsames Laster“, und beide führten unweigerlich zu körperlichem Verfall und sittlicher Verderbnis.

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