Expedition Europa

Eine Packerlsuppe im „Orient-Express“

Speisewagen gab es keinen, aber die Reisegesellschaft war illuster.
Speisewagen gab es keinen, aber die Reisegesellschaft war illuster.Martin Leidenfrost
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Die Budget-Bloggerinnen verzichteten auf das Ankunftsvideo und stiegen ungeschminkt aus dem „Orient-Express“ in der Istanbuler Vorstadt.

Es war „Monsieur Orient-Express“, der mich zu dieser Schlafwagenfahrt inspiriert hat. Das Buch des Österreichers Gerhard Rekel erzählt vom Lütticher Bankiersohn Georges Nagelmackers, der einst ganz Europa mit seinen Schlafwagenverbindungen zusammenführte, zunächst mit dem legendären „Orient-Express“ Paris–Konstantinopel.

Dieser startete am 4. Oktober 1883. Die meisten Passagiere der Jungfernfahrt waren Journalisten: acht Deutsche, sieben Ungarn, drei Franzosen, darunter der Kritikergott Edmond About sowie Henri Stephan Opper de Blowitz, Chefkorrespondent der Londoner „Times“. Es gab einen Speisewagen mit strahlenden Gaslampen, Kellner mit goldenen Epauletten und einen Schwarzen die Marseillaise schmetternden Burgunder Spitzenkoch. Da man besonders auf dem Balkan Räuberbanden fürchtete, hielt man ab Wien die Pistolen bereit. Im nächtlichen Wien stiegen die einzigen Frauen zu. Zwischen Szegedin und Temeschwar, als eine zwölfköpfige Kapelle fahrender Musiker den Zug enterte, tanzten alle vom Wein Illuminierten mit den beiden Wienerinnen.

Heute gibt es längst keine Schlafwagenverbindung Paris–Istanbul mehr, nur noch einen Nachtzug auf dem letzten Teilstück, von Sofia bis Istanbul. Nicht die osteuropäische Zeitzone bedenkend, kam ich knapp vor Abfahrt in Sofia an, suchte panisch einen Gratisparkplatz und parkte in einem verwahrlosten Miniwäldchen gegenüber vom Bahnhof, in dem glotzende Männer herumstanden und herumschlichen.



Da die Fahrkarten nicht online verkauft werden, bildete die bulgarische Eisenbahnerin am Auslandsschalter die entscheidende Hürde. Die traurige Beamtin hatte für alle Reisenden eine andere Geschichte: Eine auf Russisch fragende weißrussische Hipsterin bekam erst nach einer empörten Reklamation eine Fahrkarte, eine auf Englisch fragende Deutschtürkin, die ihre Mutter auf einer Gastarbeiterroute-Nostalgiefahrt begleitete, bekam gar keine. Ich war der Einzige, dem sie umstandslos eine Fahrkarte verkaufte.

Speisewagen gab es keinen, der türkische Schaffner trieb mir immerhin eine Packerlsuppe auf. Auch 2023 war die Reisegesellschaft illuster: etwa zwei junge Social-Media-Bloggerinnen, in Beige-Kombinationen gekleidet und aufwendig für ihr Abfahrtsvideo geschminkt. Ihr Fachgebiet war „Budget Travel“, denn Sofia–Istanbul im Viererabteil kostete keine 35 Euro, während die Reise seinerzeit im Original-Orient-Express dem Jahreslohn eines Arbeiters entsprochen hatte. Oder ein Elternteil aus der Londoner Finanzbranche mit verhaltensauffälligem, in Homeschooling unterrichtetem Kind, beide so vollendet androgyn, dass sie nur durch die einmalig gebrauchte Wendung „my father“ und „my son“ als Vater und Sohn erkennbar waren. Der Vater war Belfaster Protestant und von einer Wiedervereinigung Irlands „in fünf oder zehn Jahren“ überzeugt. Das Kind malte winzige Monster in ein kleines Heft, und ich las „Monsieur Orient-Express“ zu Ende. Die Jungfernfahrt wurde zum Karpatenschloss des rumänischen Königs in Sinaia entführt, wo der Hohenzoller Carol I. in akzentfreiem Französisch ausrief: „Rumänien will eine Nation des Westens sein, der Osten sollte an der Donau haltmachen.“ Da die Bahnstrecke noch nicht fertig war, wurde das letzte Stück per Schiff aus Warna absolviert.

Nagelmackers hatte ausgehandelt, dass der erste Orient-Express von keinen Grenzkontrollen behelligt wurde, knapp 140 Jahre später weckten uns bulgarische Grenzer und die türkischen ließen uns im Freien anstehen. Eine grazile Mademoiselle spazierte mit einem halbrunden, auf die Brust montierten Rucksack aus transparentem Kunststoff herum. Ein Kätzchen schlief darin.

1883 wurde über die Schiffseinfahrt ins Goldene Horn geschrieben: „Es war, als hätte sich ein ungeheurer Theatervorhang gehoben. Die uralte Stadt war in zarte Nebelschleier gehüllt, durch die wir Moscheen erkannten, mit ihren Minaretten wie riesigen Altarkerzen.“
2023 wachte ich noch vor Sonnenaufgang im Schlafwagen auf. Ich sah eine Staffel neuer, einheitlich graubrauner Wohnblöcke vor einer grauen Regenwand. Der letzte Rest vom Orient-Express endete nicht in einem osmanischen Eisenbahnpalast, sondern im S-Bahnhof einer entfernten Istanbuler Vorstadt. Am Bahnhof Halkali gab es nichts, nicht mal ein Buffet, nur automatische Metallschranken. Die Budget-Bloggerinnen sparten sich ihr Ankunftsvideo und stiegen ungeschminkt aus. Die einzige Informationsbörse war ein Wägelchen mit Ein-Personen-Dach an der Hauptstraße oben: der „Simitçi“, ein Sesamkringelmann.

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