Buch der Woche

Tom McCarthy: Die Eleganz der Schafe

War bereits zweimal für den Booker-Preis nominiert: Tom McCarthy.
War bereits zweimal für den Booker-Preis nominiert: Tom McCarthy. imago images/Guillem López
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Mit ihren Bewegungsstudien machte Lillian Gilbreth in den 1930er-Jahren die Arbeitswelt effizienter. Tom McCarthy geht in seinem Roman „Der Dreh von Inkarnation“ auf die Suche nach Gilbreths scheinbar größtem Geheimnis.

Das Komponieren von „Der Dreh von Inkarnation“ habe von der Bereitschaft verschiedener technischer Experten profitiert, ihre Windkanäle, Wassertanks, Motion-Capture-Werkstätten, Postproduktionsstudios etc. seinen Blicken zu öffnen, bemerkt Tom McCarthy in seiner Danksagung. Das lässt sich gut nachvollziehen, denn anstatt sich mit Andeutungen zu spielen, hat der 1969 in London geborene Autor die Fachsprachen gleich mehrerer technischer und wissenschaftlicher Disziplinen Kapitel für Kapitel in diesen ungewöhnlichen Roman gepflanzt.

McCarthy, der sich an der Schnittstelle von Literatur, Philosophie und Kunst bewegt und das semi-fiktionale Avantgarde-Netzwerk „International Necronautical Society“ (zur Erforschung der Räume des Todes) gegründet hat, gilt seit seinem Debüt „8 1/2 Millionen“ als eine Art Erneuerer des Romans, sowohl in sprachlicher als auch in inhaltlicher Hinsicht.

Bei einer Wellenmaschine in Berlin, der Stadt, wo der Autor derzeit lebt, beginnt nun „Der Dreh von Inkarnation“, und das Hauptthema ist: Bewegungsabläufe von Raumschiffen in Filmen, von Arbeiter:innen in Fabriken, von Menschen beim Sex, von Bobfahrern im Eiskanal, von Tänzerinnen und auch von Drohnen im Krieg. Und damit verbunden die Frage: Wie kann man diese Bewegungen perfektionieren, modellieren, effizienter machen und – wie es eine Rechtsanwaltskanzlei für einen Klienten herausfinden soll – patentieren lassen? Man denke nur an die Wischbewegung auf dem Handy und die damit zusammenhängenden Gewinne.

McCarthy orientiert sich am postmodernen Roman, der französische Autor und Filmemacher Alain Robbe-Grillet gilt als eines seiner Vorbilder. Und gleich am Anfang erinnert ein Kapitel an David Foster Wallaces „Unendlicher Spaß“, an dessen Figur Hal Incandenza in der Enfield Tennis Academy – doch das Setting McCarthys ist nicht eine nahe Zukunft, sondern sind die Gegenwart und nahe Vergangenheit.

Wie man ein Raumschiff navigiert

Da tappt der Schüler Markie im Museum herum, vertieft sich in ein Bild, ein Klassenkollege kommt und – „klonk“ – wirft einen Gegenstand nach ihm und trifft das Kunstwerk. Ein paar Museumswärter führen ihn kurzerhand ab, in ein Hinterzimmer voll flimmernder Überwachungsbildschirme: „Es ist, als würde er eine andere Welt sehen . . .“ Die Zukunft? Ein paar Seiten weiter und Jahre später begegnen wir ihm erneut, als der ehrgeizige Dr. Mark Phocan, der für die Londoner Firma Pantarey Motion Systems arbeitet, dort mehrere Projekte betreut, eines davon ist der Film „Inkarnation“, eine ausufernde Weltraumsaga, eine Mischung aus Space Opera à la „Star Wars“ und komplexer gestrickten Stoffen wie die Serie „The Expanse“. Das Raumschiff heißt Sidereal (von „siderisch“, auf Sterne bezogen), und das gilt es (im Film) zu navigieren.

Der Firmengründer Tony Garnett, der als junger Mann schon an Schlafmangel litt, so der Gründungsmythos, habe beim Schafezählen plötzlich deren Bewegungsabläufe zu analysieren begonnen und kurz darauf mit echten Tieren Feldversuche gestartet – um in das lukrative Unternehmensfeld der Motion Capture einzusteigen. Dabei werden Bewegungen mittels technischer Gerätschaften exakt erfasst, um sie dann bei computergenerierten 3-D-Modellen anzuwenden, eine Technologie, die vom Militär bis zur Unterhaltungsindustrie genutzt wird.

Die tragende Rolle im Roman hat aber eine historische Figur: Lillian Gilbreth, eine 1878 im kalifornischen Oakland geborene Ingenieurin und Psychologin. Als Anhängerin des Taylorismus, demzufolge wissenschaftliche Methoden zur wirtschaftlichen Optimierung von Unternehmen eingesetzt werden, widmete sie sich den Bewegungsabläufen von Arbeitern in Fabriken, die sie mittels Zyklografen untersuchte: „Gilbreth befestigte einen elektrischen Lichtring am Finger einer Näherin oder eines Maschinisten, und durch lange Belichtungszeiten konnte sie die Bewegung der Hand beim Arbeitsvorgang als weiße Linie notieren.“ Die Routinen der effizientesten Arbeiterinnen modellierte sie mit Draht, damit die anderen danach geschult werden konnten: „gestaltgewordene Daten“.

Jagd nach Schachtel 808

Trotz all der Wissenschaft und Technik führt uns der Erzähler McCarthy – und mit ihm seine Figuren inklusive einiger Geheimdienstler – ins Mysteriöse. Denn es gibt das Gerücht, Gilbreth habe eine Art Heiligen Gral gefunden, als sie ihre Suche immer manischer auf „den einen besten Weg“, also die ultimative Bewegung, „die alles verändert“, ausrichtete. Die Lösung soll irgendwo in Form eines Drahtmodells existieren („Schachtel 808“), doch das ist verschwunden. Hinweise darauf gibt es in der Korrespondenz, die Gilbreth kurz vor ihrem Tod mit dem jungen lettischen Physiker Ravis Vanins führte.

Nun beginnt eine fieberhafte Suche. Die junge Juristin Monica Dean reist im Auftrag eines anonymen Klienten nach Purdue, Indiana, wo sich Gilbreths Nachlass befindet – und je näher sie dem Ziel zu kommen scheint, desto unfreundlicher wird dort das Personal. Mark Phocan wiederum heftet sich an die Fersen des mittlerweile betagten Physikers in Lettland.

Dieses Hinterherjagen erinnert an „Das Foucault'sche Pendel“, in dem Umberto Eco, dem Geheimnis von Seite zu Seite einen Schritt näher, immer wieder Exkurse über die damals neuen, weil computerunterstützten narrativen Möglichkeiten einzieht – wie auch McCarthy, der uns im jeweiligen Technikjargon über zig Seiten mal in den Eiskanal nach Igls oder zu Programmierern ins verregnete norwegische Bergen schickt. Und dann wäre da noch die Nähe zu Hergés „Tim und Struppi“, dem McCarthy 2010 einen Langessay gewidmet hat. Das Comichafte zeigt sich in der Machart des Romans, dessen Szenen wie aneinandergereihte Panele wirken, detaillierte Bilder und kleinteilig geschilderte Bewegungen und Interaktionen. So wie Tim seinen Abenteuern nachreist, reißt es die Angestellten in diesem Roman herum, und hinter mysteriösen Schachteln oder Ungetümen verstecken sich da wie dort nur allzu menschliche (rational erklärbare) Machenschaften und Ideen: „All die neumodischen Apparaturen, die wir uns ausgedacht haben, die ganzen Maschinen“, heißt es da, seien „nur Anstöße für unsere Spekulationen und Projektionen, ein Ersatz für irgendeine ultimative Maschine, die wir nie bauen werden“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.05.2023)

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