Die Herausforderungen des Stadtlebens erscheinen mir leichter zu bewältigen als die Schwierigkeiten des Landlebens.
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Ich lebe lieber in der Stadt, da darf ich noch Kind sein

Das Leben in der Stadt ermöglicht mir, für immer eine Jugendliche zu sein, die träumt und spielt und sich ausprobiert. Ich lasse mich von Straßenbahnen und U-Bahnen chauffieren. Vielleicht aber werde ich irgendwann erwachsen sein. Vielleicht lebe ich dann in einem Haus auf dem Land.

Ich bin ein Stadtkind, und das Wort „Kind“ trifft es auf den Punkt, denn würde ich auf dem Land leben, müsste ich viel erwachsener sein, als ich bin. Ein Leben auf dem Land erfordert Kenntnisse, die ich nicht habe und die aufzubauen es mir an Neigung und Begabung fehlt. Zum Wohnen bräuchte ich vermutlich ein eigenes Haus, also hätte ich irgendwann lernen müssen, wie man einen Kredit aufnimmt und diesen bedient, und ich hätte irgendwann einen Führerschein machen müssen, weil man ohne Auto nirgends hinkommt, und mir sozialadäquates Standardwissen für Smalltalk mit den Nachbarn aneignen. All dies hätte mich schlicht überfordert. Das Leben in der Stadt ermöglicht mir, für immer eine Jugendliche zu sein, die träumt und spielt und sich ausprobiert. Ich lasse mich von Straßenbahnen und U-Bahnen chauffieren, muss mich nicht darum kümmern, an welchem Tag die Müllabfuhr kommt, und kann jederzeit eine neue Rolle annehmen, spontan in ein Restaurant gehen, in dem ich noch nie zuvor gewesen bin, und dort ein Mensch sein, der ich noch nie zuvor gewesen bin. Sobald die Bäckerin anfängt, sich mein Gesicht zu merken und mich zur Begrüßung zu fragen: „So wie immer?“, kann ich die Bäckerei wechseln und mir ganz andere Kipferl kaufen als in den Wochen davor, ohne das Gefühl zu haben, dass ich jemanden verstöre.

Die Stadt ist eine Kulisse für zahlreiche So-tun-als-ob-Spiele. Auf meinem Balkon tue ich so, als ob ich einen Garten hätte. Seit Jahren pflanze ich amateurhaft Kräuter, Gemüse und Blumen an, verbringe ganze Wochenenden mit dem Gärtnern. Ich bin stolz auf meine bescheidene Ernte, mit der ich mir pro Jahr ungefähr zwanzig Euro im Supermarkt erspare, und genieße es, mich wie eine Bäuerin zu fühlen, wenn ich vor meiner Balkontür die Kräuter für meine Suppe ernte. Ein unschlagbarer Vorteil des So-tun-als-ob besteht darin, dass man es jederzeit beenden kann. Sollte ich in irgendeinem Jahr einmal keine Lust darauf haben, etwas anzupflanzen, hätte dies keine tragischen Konsequenzen. Mein Balkon wäre dann eben nur ein ungenützter Balkon unter vielen und nicht ein ungepflegter Garten, der Anstoß in der Nachbarschaft erregt.

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