Warnt seit Jahrzehnten vor dem Klimawandel: T. C. Boyle, geboren 1948.
Vorabdruck

Speiseinsekten, ja bitte! In seinem neuen Roman bekämpft T. C. Boyle den Klimawandel

Der Brutapparat war aus Plexiglas, damit man zusehen konnte, wie die Grilleneier sich zu Larven entwickelten, aus denen schließlich erwachsene Tiere wurden. Diese würden als Lebensmittel geerntet werden, um den weltweiten Methanausstoß zu reduzieren.

Ottilie hatte beschlossen, Insekten zu essen, weil ihr Sohn Entomologe war und sie ihn liebte und weil es richtig war. Anfangs hatte sie sich geweigert, aber Cooper hatte sie schließlich überzeugt. Der Tod des Planeten, das war sein Thema. Das Anthropozän, die Spezies Homo sapiens, die ein Fluch war, und so weiter. Die Eisbären. Die Monarchfalter. Die Frösche. „Der Planet stirbt, siehst du das nicht?“, hatte er sie gefragt, nein, geradezu angeherrscht, als er das letzte Mal zum Abendessen da gewesen war, und seitdem waren jetzt fast zwei Monate vergangen, genug Zeit, um die Sache von allen Seiten zu betrachten.

Ja, sie sah es. Und sie fühlte sich schuldig für den Anteil, den sie daran hatte. In westlichen Industriegesellschaften verbrauchte jeder Mensch fünfunddreißigmal mehr Ressourcen als der durchschnittliche Inder oder Afrikaner, doch was konnte sie schon tun, außer ihre Kreditkarten zu zerschneiden und alles, was ins Haus kam, bis auf den letzten Rest zu recyceln? Mit dem Letzteren hatte sie kein Problem: Sie trennte den Müll ohnehin und kompostierte den größten Teil der organischen Abfälle. Das mit den Kreditkarten war schwieriger, denn man musste ja Dinge kaufen, um die Wirtschaft in Schwung zu halten. Also ließ sie sich ihre Kreditkartenabrechnungen und alle anderen Rechnungen papierlos übermitteln – das war immerhin ein Schritt in die richtige Richtung.

„Aber der Planet stirbt ja gar nicht“, hatte sie gesagt und von dem Brett aufgesehen, auf dem sie Zwiebeln, Paprikaschoten und Auberginen für die Marinarasauce schnitt, die es später geben sollte (ohne Putenwurst, die sie aus Rücksicht auf ihren Sohn separat briet – er hatte sich schon zweimal über den Geruch beklagt). „Soviel ich weiß, dauert es noch mindestens viereinhalb Milliarden Jahre, bis die Sonne anschwillt und uns alle wie Hummer kocht. Oder fünf Milliarden? Ich glaube fünf.“

„Also bitte. Rinder, Schweine, Ziegen – wir essen uns zu Tode.“

„Dein Vater hat nicht vor, Vegetarier zu werden, das weißt du.“

„Das sage ich ja: Man braucht Eiweiße, Vitamin B12, Choline, Aminosäuren.“ Er hatte sie angesehen. „Besonders im Alter. Ihr beide.“

Also ging sie online und bestellte bei Entomo Farm einen Grillen-Brutapparat, mit dem sie ständig fettarmes, ballaststoffreiches Eiweiß produzieren und obendrein die Küchenabfälle noch effizienter verwerten konnte. Ein Mausklick – und ja, ihre Kreditkartennummer –, und vier Tage später stand eine einen Meter hohe Kiste vor ihrer Tür, und dazu erhielt sie einen gepolsterten Umschlag mit dem Aufdruck LEBENDE TIERE, in dem es raschelte und zirpte, als sie ihn in die Hand nahm. Der Brutapparat war aus Plexiglas, damit man zusehen konnte, wie die Grilleneier sich zu Larven entwickelten, aus denen schließlich erwachsene Tiere wurden. Als wäre das Ganze ein anschauliches Biologieprojekt – wie die Ameisenfarmen, die in ihrer Kindheit große Mode gewesen waren. Nur dass es hier eben Grillen waren, und die würden als Lebensmittel geerntet und genutzt werden, um den Methanausstoß der etwa eine Milliarde Rinder, die es auf der Welt gab, zu reduzieren und die Rodung von Waldflächen für den Futtermittelanbau zu bremsen. Ganz zu schweigen davon, dass fühlenden Wesen der Horror der Schlachthöfe erspart blieb – ein weiteres Argument, das Cooper vorgebracht hatte. Ja, sie hatte die Filme gesehen, wo Hühner an den Beinen von Förderbändern hingen und von wirbelnden Messern geköpft wurden oder Rinder einen Schlag gegen die Stirn bekamen und in die Knie gingen und in einer Lawine aus Fleisch zusammenbrachen.

Sie hatte also ein gutes Gefühl, als sie die Teile auspackte, die Anleitung las und das Ding zusammenbaute, mitsamt dem Schubfach für die Küchenabfälle und, ganz unten, dem für die Exkremente, die laut Broschüre ein unübertroffener Dünger für Zimmer- oder Gartenpflanzen war. Gärtnern Sie gern? Haben Sie Begonien? Tomaten? Zucchini? Sie werden staunen, wie gut sie gedeihen, wenn Sie der Erde regelmäßig ein paar Teelöffel des Endproduktes hinzufügen!

Sie füllte das Futterfach mit Salatblättern und Kartoffelschalen vom gestrigen Abendessen und stellte den Brutapparat in die Spüle, bevor sie die Grillen in ihr neues Heim entließ, wo sie zirpen und sich fortpflanzen und wöchentlich bis zu einem Pfund Fleisch produzieren würden – ein Begriff, an den sie sich in diesem Zusammenhang erst noch würde gewöhnen müssen. Sie fand die Sache belebend wie jedes neue Projekt, besonders weil es sich um etwas so Grünes und Segensreiches handelte, und am aufregendsten war der letzte Schritt, die Freisetzung der Grillen. Da waren sie, zappelig und wie wild mit den Beinen rudernd, allesamt in der unteren Ecke des schmalen, extralangen Plastikbeutels, in dem sie geliefert worden waren. Sie zirpten, schwenkten ihre Antennen und suchten nach Halt. Sie schüttelte den Beutel, um die abenteuerlustigeren zurückzubefördern und sie an einer Stelle zu konzentrieren, bevor sie den Verschluss öffnete und den Beutel über dem Brutapparat umdrehte, worauf die Schwerkraft und die Eigeninitiative der Grillen den Rest erledigten.

Die Sonne schien durch das Küchenfenster und beleuchtete die Kaffeemaschine und den Toaster auf der Arbeitsfläche. Die würde sie wohl wegräumen müssen, um Platz für die Grillenfarm zu schaffen. Alles war in ein weiches, rötliches Licht getaucht, ein Licht, das von Aschepartikeln hoch oben in der Atmosphäre gebrochen wurde, und diese Partikel stammten von den Bränden bei San Francisco. Obwohl sie wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis das Buschwerk auf den Hügeln rings um Santa Barbara in Flammen aufgehen würde, wie es das offenbar alle paar Jahre tat, fand sie das unwillkürlich schön. Es war jedenfalls anders. Eine Veränderung. Seit Monaten, seit dem Ende der Regensaison im März, war der Himmel strahlend blau, jeder Tag das Abbild des vorangegangenen, und das führte zu einer Art Überdruss und war eine tägliche Erinnerung an die Dürre, die jetzt schon vier Jahre anhielt – oder waren es fünf? Cooper war wie besessen, aber abgesehen davon, dass sie und Frank sorgsamer mit Wasser umgingen, hatte sich ihr Leben nicht sonderlich verändert, seit sie den Garten umgegraben und Hackschnitzel ausgebracht hatten, die Frank sicherheitshalber mit einem feuerhemmenden Mittel besprüht hatte. Sie beugte sich über den Apparat und betrachtete die Grillen, die gewissermaßen ihre Herde waren und in den leeren Eierkartons umherwuselten, die sie, wie empfohlen, ausgelegt hatte, damit die Tiere etwas Deckung hatten, und dann schob sie den Toaster ganz dicht an die Kaffeemaschine, hob den Brutapparat aus der Spüle und stellte ihn auf die Arbeitsfläche.

In diesem Augenblick bemerkte sie, dass bei dem Transfer zwei der schimmernden schwarzen Insekten entkommen waren und sich noch immer in der Spüle befanden, wo sie verwirrt an den glatten Porzellanwänden abrutschten und schließlich im Abflusssieb landeten. Sie war nicht zimperlich, nicht besonders jedenfalls, aber jetzt dachte sie plötzlich an die Studenten-WG, in der sie mit drei anderen gewohnt hatte, die durchaus sauberer hätten sein können, und sobald man nachts das Licht ausgemacht hatte, waren aus allen Winkeln jede Menge Kakerlaken gekrochen, und konnte man die etwa auch essen? Sie sahen nicht so sehr anders aus als Grillen. (. . .)

Ein Fleischfresser, groß wie ein Baum

Aber wie sie fangen, ohne sie zu verletzen? Immerhin handelte es sich um den Grundstock ihrer Zucht, und natürlich würden die Tiere irgendwann getötet werden, aber diese Zeit war noch nicht gekommen. Sie sah, wie sie sich verwirrt in die Vertiefung duckten. Ihre Antennen registrierten den unwiderstehlichen Duft der faulenden Partikel am Edelstahlsieb des Abflusses, aber ihr Gehirn, sofern sie eins hatten – hatten sie ein Gehirn? –, sagte ihnen, dass sie von der Kolonie getrennt waren und dass Trennung im Augenblick und unter diesen neuen Umständen Gefahr bedeutete. Sie streckte die Hand nach einer von ihnen aus, die auf eingeknickten Beinen dahockte, und wollte sie sanft mit Daumen und Zeigefinger greifen, doch die Grille war zu schnell. Im nächsten Augenblick saß sie auf den Härchen an Ottilies Unterarm.

Bis jetzt waren Grillen hauptsächlich etwas Theoretisches gewesen – ein Foto im Internet, die Erinnerung an die Käfer, die Cooper als Junge in Marmeladengläsern gehalten hatte, verstohlene Wesen im Garten, die sich nie zeigten und verstummten, wenn man ihnen zu nahe kam –, doch diese Grille war jetzt, genau hier, vor ihren Augen, und klammerte sich an sie wie an ein Monument aus Fleisch. Und das war es, was sie in den Augen dieses Tieres wohl war: ein Fleischfresser, so groß wie ein Baum, der es bestimmt nicht gut mit ihm meinte. Die Fühler zuckten, doch davon abgesehen war es vollkommen reglos, als hätte der Sprung aus dem Abfluss all seine Energie verbraucht. Zugegeben, die Grille sah nicht besonders appetitlich aus, aber das konnte man von den mit ihnen verwandten Arthropoden, die den Meeresgrund und die Flussbetten bevölkerten, von den Krabben, Garnelen und Hummern der Welt ja auch nicht behaupten. (. . .)

Als sie jetzt nach der Grille griff, leistete diese keinen Widerstand. Sie fühlte sich hart und stachelig an, wie die Kletten, die sie nach einem Waldspaziergang aus dem Fell des Hundes zog, versuchte aber nicht, sie zu beißen – das Äußerste, wozu Grillen imstande waren, hatte sie gelesen, war ein leises Zwicken mit den Mandibeln, aber diese hier schien sich ergeben zu haben. Vielleicht war sie auch nur benommen. Sie stammte aus einem Zuchtlabor in Oakland, war aus dem einzigen Heim, das sie kannte, herausgefischt, in einen Umschlag gesteckt und hier freigelassen worden, in dieser Küche, die für sie so fremd sein musste wie für Menschen die Mondoberfläche. Egal. Sie öffnete den Deckel des Brutapparats, so dass das zaghafte Zirpen und das Rascheln krabbelnder Beine lauter wurden, und ließ die Grille hineinfallen. Dann griff sie nach der anderen.

Buch


„Blue Skies“ erscheint am 15. Mai. T. C. Boyle und Michael Köhlmeier werden am 12. Juni im Theater im Park in Wien daraus lesen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.05.2023)

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