Literatur

Die Besserungsanstalt für schlechte Mütter

Bilder einer anderen Mutterschaft: Hanna Putz, „Untitled“, 2011–2013.
Bilder einer anderen Mutterschaft: Hanna Putz, „Untitled“, 2011–2013.Hanna Putz
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Fünf starke neue Romane zum Muttersein: vom „Institut für gute Mütter“, das Frauen zum Training mit KI-Puppen zwingt, bis zum lesbischen Paar, das an einem Kind zerbricht.

Sind es nur Männer, die verzweifeln können, wenn alles nur noch um Kinderwunsch, Schwangerschaft, Mutterschaft kreist? Natürlich nicht. Im Roman „Boulder“ der Katalanin Eva Baltasar ist es eine Frau. Weil ihre Lebensgefährtin, Samsa, unbedingt ein Kind haben will, tauscht sie ihr Leben auf See gegen eine kleine Wohnung in Reykjavik – und fühlt sich bald, als stürbe jeden Tag ein Stück von ihr . . .

Niemals Kinder – das hatten sich die zwei Freundinnen im Roman „Still Born“ der Mexikanerin Guadalupe Nettel geschworen, die eine lässt sich sogar sterilisieren. Die andere ändert ihre Meinung, wird schwanger von ihrem Partner – und erfährt bei einer Untersuchung Furchtbares . . .


Booker-Favoriten. Zwei Romane sind das, die beide auf Spanisch verfasst, beide noch nicht auf Deutsch erschienen, aber schon auf Englisch zu lesen sind – und beide stehen auf der Shortlist für den diesjährigen begehrten britischen Booker Prize International. „Boulder“ ist kurz, sinnlich und eher lyrisch geschrieben, „Still Born“ wie ein langer Bericht. Da wie dort wird aus der Sicht jener Frau erzählt, die kein Kind haben will – bzw. wollte. Und an beiden Romanen zeigt sich: Wenn es darum geht, Worte zu finden für Gefühle und Erfahrungen – in dem Fall rund ums Muttersein –, die sich kaum einem anderen, wenn überhaupt sich selbst mitteilen lassen, die man sich im Guten oder Schlechten nie erträumt hätte, dann – ja, dann gibt es nichts Stärkeres als die Literatur.


„Boulder“. Faszinierend in „Boulder“ ist nicht zuletzt, dass man versucht ist, die Gefühle, die geschildert werden, reflexartig Männern zuzuschreiben: dieses Gefühl, „ins Exil geschickt“ zu sein; dieses Gefühl, dass die Partnerin, Samsa (die sich künstlich befruchten ließ), sich nun vom Kind lustvoll auffressen lässt; dazu der sexuelle Frust (Samsa erklärt ihre Unlust samt Auszug aus dem gemeinsamen Schlafzimmer mit den Hormonen, dem Stillen . . .).

Dürfte in einem Roman heute ein Mann sagen, was die Icherzählerin in „Boulder“ sagt, ohne sofort alle weiblichen Sympathien zu verspielen? „Ich interessiere mich nicht für das Netz täglicher Verpflichtungen, das Tinna umfängt, ich will nur Zeit mit ihr verbringen . . . Ich habe nicht das Bedürfnis, eine Mutter für sie zu sein, zumindest nicht so, wie Samsa denkt, dass ich es sein sollte.“ Die Erzählerin nennt Samsa „die Königin der guten Entscheidungen, sie hat alles unter ihrer Kontrolle. Tinna ist ihr Ton, ihre Figurine. Das Leben einer Mutter kann eine Zunge sein, die nicht müde wird vom Lecken.“Auch wenn die Erzählerin das Kind nicht ganz verlässt: Sie geht wieder zur See, sie geht.

„Stil Born“.
In „Still Born“ wiederum erlebt man aus der Sicht der Icherzählerin, die sich hat sterilisieren lassen, die Geschichte ihrer Freundin Alina, die sich zur Schwangerschaft entschließt und mittendrin erfährt, dass sich das Hirn ihres Kindes nicht mehr entwickelt, dieses gleich nach der Geburt sterben werde; die noch vor der Geburt das Begräbnis plant, das schon eingerichtete Kinderzimmer leert. Und dann – kommt wieder alles ganz anders. Schließlich auch im Leben der Erzählerin, die sich zur Zweitmutter eines vernachlässigten Nachbarsbuben entwickelt. Die Erfahrungen einer Freundin und deren Tochter haben die mexikanische Autorin zu diesem großartigen, brutal offenen und zugleich mitfühlenden Roman inspiriert (der im Übrigen auf Englisch recht leicht zu lesen ist).


„Institut für gute Mütter“. Stellen Sie sich nun vor, Sie lassen ihr knapp ein Jahr altes Baby eine Zeit lang allein in der Wohnung – das ist ganz, ganz schlecht, ja, ja, aber Sie sind zum Verzweifeln übernachtig und müssen unbedingt für ihren eh schon gefährdeten Job etwas holen, dann erledigen Sie im Büro noch schnell ein paar E-Mails . . . Im Roman „Institut für gute Mütter“ muss Frida Liu deswegen in eine Anstalt, in der sie anhand einer KI-Puppe lernen soll, eine gute Mutter zu sein. Fridas Puppe heißt Emmanuelle und hat „Neuwagengeruch“. Emmanuelle sammelt beim Training Informationen über die Mutter, Puls, Lidschlagfrequenz, Mimik etc., schließt aus Berührungen, Tonfall etc. auf deren Zustand. Nach einiger Zeit hat Frida immer noch keine „Umarmungseinheit“ erfolgreich abgeschlossen, ihre Umarmungen drücken Wut aus, die Zuneigung ist oberflächlich. Ohne zu viel verraten zu wollen – es wird zusehends dystopisch, die Mütter werden in Uniformen gesteckt, bewacht. „Nur eine schnelle Mutter ist eine gute Mutter“, heißt es da zum Beispiel, Reuetagebücher müssen geführt werden, aufkeimende Liebesbeziehungen zwischen den von der Außenwelt isolierten Insassinnen sind verboten, nur das Kind darf wichtig sein, die „Reinheit von Geist und Seele“.

„The School for Good Mothers“ heißt im Original dieser anregende Roman der US-Autorin Jessamine Chan, der im Frühjahr nun auch auf Deutsch erschienen ist. In den USA kam er 2022 auf die Bestsellerliste der „New York Times“, zu seinem Erfolg trug bei, dass Ex-Präsident Barack Obama ihn auf seine „Summer Reading List“ setzte.


„Eine beiläufige Entscheidung“. Die Mutter im Roman „Eine beiläufige Entscheidung“ der Deutschen Maren Wurster verliert nicht ihr Baby: Sie geht einfach weg. Der Abgang ist durchgeplant: „Sie würde Konrad trinken lassen, solang er mochte, bis sein Kopf schwer wurde und die Augen hinter den halb geschlossenen Lidern verschwanden. Dass Lena ihn jenseits des Hungers nie würde sättigen können, lag klar und schneidend vor ihr. Dann würde sie ihn vorsichtig in seinen Stubenwagen legen, die Spieluhr aufziehen. Sie hatte seinen Schlaf am späten Morgen extra ausgelassen, sodass er hoffentlich lang genug schliefe.“ Sechs Portionen Milch sind abgepumpt im Tiefkühlfach, die der Mann finden wird, den sie mit Konrad allein lässt, während sie erstmal im gemeinsamen Ferienhaus untertaucht.

Die 1976 geborene deutsche Autorin Maren Wurster erzählt aber nicht nur aus der Sicht dieser Frau, die für immer ihr Kind verlässt. Parallel dazu erzählt sie von dem zum Teenager gewordenen Baby, Konrad. Und diese Kombination macht den Roman eindeutig lesenswert.


„Ein Geist in der Kehle“. Zuletzt wieder etwas im Charakter Lyrischeres, sprachlich Durchgeformteres: „Ein Geist in der Kehle“ von der irischen Lyrikerin Doireann Ní Ghríofa. Durch dieses Buch, das im Frühjahr erschienen ist, weht ähnlich wie bei „Boulder“ ein starker, freier Wind beziehungsweise die wilde Sehnsucht danach: und das, obwohl ein großer Teil des Romans die Schilderung von Alltagstätigkeiten einer mehrmals Schwangeren bzw. mehrfachen Mutter umfasst.

Buchtipps

Vielleicht hat es ja auch mit der irischen Landschaft zu tun, jedenfalls mit einem Gedicht, einem Klagegesang aus dem 18. Jahrhundert: Während die Frau im Buch von ihren Erfahrungen als Schwangere und Mutter erzählt, beschäftigt sie sich intensiv mit der im 18. Jahrhundert lebenden Dichterin Eibhlín Dubh Ní Chonaill. Diese war eine irische Adelige, die im Alter von 23 Jahren mit einem Hauptmann durchbrannte. Sie war schwanger, als er starb, und schrieb dann das Gedicht „Klagelied für Art Ó Laoghaire“. Darin betrauert sie den Tod des Geliebten und trinkt sein Blut. In kraftvollen, klangvollen Sätzen verbindet Doireann Ní Ghríofa intensive, wunderbare Erfahrungen der Mutterschaft mit dem dennoch nicht weichenden Begehren nach einem wilden, freien Leben.„Boulder“ von Eva Baltasar. Übersetzt aus dem Spanischen von Julia Sanchez (Verlag And Other Stories).

„Still Born“ von Guadalupe Nettel. Übersetzt aus dem Spanischen von Rosalind Harvey (Verlag Faber und Faber).

„Institut für gute Mütter“ von Jessamine Chan. Übersetzt aus dem amerikanischen Englisch von Friederike Hofer (Ullstein).

„Ein Geist in der Kehle“ von Doireann Ní Ghríofa. Übersetzt aus dem Englischen von Cornelius Reiber und Jens Friebe (btb).

„Eine beiläufige Entscheidung“ von Maren Wurster (Hanser Berlin).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.05.2023)

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