„Das Theater am Strand“

Die ganze Welt in einem Wal

Joanna Quinn wuchs in Dorset in Südengland auf. Ihr Erstlingsroman wurde zum Überraschungserfolg.
Joanna Quinn wuchs in Dorset in Südengland auf. Ihr Erstlingsroman wurde zum Überraschungserfolg. Aimee Joy Photography
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Eine Prise Downton Abbey, ein Schuss „Brideshead“, ein halsstarriges Mädchen, tiefe Liebe und noch tiefere Traurigkeit: „Das Theater am Strand“ von Joanna Quinn verzaubert.

Es ist das Jahr 1928, als in einer stürmischen Nacht ein Blauwal an der Küste von Dorset angespült wird und verendet. Der Wal gehört nach dem Gesetz dem König – wie alles, was in England an Land geschwemmt wird. Doch Miss Cristabel Seagrave sieht das anders. Begleitet von ihren Halbgeschwistern packt sie ihre Flagge (einen angespitzten Besenstiel) erklimmt das tote Tier und markiert ihn als das Ihre, wobei sie doch ein wenig erstaunt ist, wie hart die Haut eines solchen Ungetüms sein kann. Miss Cristabel Seagrave ist zu diesem Zeitpunkt zwölf Jahre alt, und es gibt nicht viel, was sie nicht weiß.

Diesen Wal lässt Joanna Quinn in ihrem Roman „Das Theater am Strand“ für Cristabel zum Inbegriff aller glücklichen Zeiten in ihrem Leben werden. Gemeinsam mit ihrer Halbschwester Flossie (damals noch „Veggie“ genannt, weil sie aussieht wie Gemüse), ihrem charismatischen Cousin Digby und ausnahmsweise unterstützt von den Erziehungsberechtigten in ihrem Haushalt und deren bunter Truppe von Freunden, säubert Cristabel die Rippen des Wals und baut daraus eine Bühne am Strand. Die Produktionen der jungen Impresaria hallen dank Cristabels laienhaften Charmes und ihrer einfallsreichen Entschlossenheit bis London nach. Das Leben ist perfekt, doch dieser Zustand hält bekanntlich selten länger als einen Augenblick.


Neun Jahre Arbeit. Die Entstehungsgeschichte von „Das Theater am Strand“ klingt selbst nach dem Stoff, aus dem Träume sind. Joanna Quinn, die in Dorset aufgewachsen ist und eine Tochter hat, arbeitete neun Jahre an dem Erstlingsroman, neben ihrer Tätigkeit als Lokaljournalistin: „Ich hatte – vielleicht zum Glück! – keine Ahnung, wie lang man an einer Geschichte schreibt, die sich über mehrere Generationen hinzieht.“ Als Quinn während der Corona-Epidemie ihren Job verlor, schickte sie das unfertige Manuskript aus lauter Existenzangst an eine Literaturagentin. Der Rest ist Geschichte, „The Whalebone Theatre“ wurde ein Überraschungserfolg.

Der Roman erzählt die Geschichte eines halsstarrigen Mädchens aus guter aber ungewöhnlicher Familie, das in der falschen Zeit geboren wurde. „Das Theater am Strand“ enthält einen Schuss Downton Abbey, eine Prise „Brideshead Revisited“ sowie die tiefe Liebe zwischen Geschwistern, die von den selbstbezogenen Erwachsenen sich selbst überlassen werden. Schon als Kinder entwickeln Cristabel, Flossie und Digby einen bemerkenswerten Überlebenswillen und Zusammenhalt –durch alle Wirrnisse und Gefahren hindurch, die das Leben und vor allem der Zweite Weltkrieg für sie bereithalten, in dem alle drei ihren Mut beweisen und über sich hinauswachsen.


Dinge, die Kinder erfahren. Joanna Quinn erzählt all das mit viel Witz, mit Herz und mit Schmerz, ohne jemals dick aufzutragen. Ihre Sprache ist bildgewaltig – manchmal etwas zu sehr, manchmal trifft sie mit ihren Assoziationen ins Schwarze. Immer wieder baut Quinn andere Textsorten wie Listen ein, etwa „Dinge, die Kinder erfahren, wenn sie aus dem Bett kriechen und sich während der abendlichen Dinnerparty hinter den Mänteln in der kleinen Garderobe hinter der Haupttreppe in der Eichenhalle verstecken“. Überhaupt läuft Quinn im ersten Drittel des in fünf Akte unterteilten Romans zu Höchstform auf, wenn sie über die drei Kinder schreibt. „Rückzug hinter die Barrikaden“ lautet deren Motto, wenn die Erwachsenenwelt heranrückt. Ausgegeben hat es natürlich Anführerin Cristabel.

Rund um die drei Seagrave-Kinder ordnet Quinn ein Personal an, das die Szenerie des Romans so richtig mit Leben erfüllt: vom charmanten Lebemann Willoughby (Onkel und Vater) bis zum geheimnisvollen (Ruf-)Onkel Perry, der schönen unglücklichen Rosalind (Stiefmutter und Mutter), dem exilierten russischen Maler Taras mit seiner Entourage aus wilden Frauen und Kindern, die für die Seagraves beste Feinde werden.

Joanna Quinn wollte eine Geschichte „üppig und dicht wie ein dickes Daunenbett“ schreiben. Es ist ein Genuss, sich hineinfallen zu lassen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.05.2023)

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