Neben Büchern gibt es auch Zeitschriften, Ton­träger, Gemälde.
Erkundung

Ein Streifzug durch Englands größte Bibliotheken

Die British Library in London und die Bodleian in Oxford sind die beiden größten Bibliotheken Englands. Eine Erkundung: von den Beowulfs bis zu den Beatles.

Scheinbar mühelos notierte John Lennon den Text von „A Hard Day’s Night“ hastig auf der Rückseite einer Geburtstagskarte, Paul McCartney hielt musikalische Geistesblitze auf alten Briefumschlägen fest. Tagebücher, die Robert Falcon Scott bis zu seinem Tod in der Antarktis im Jahr 1912 geführt hat, faszinieren durch ihr Bestehen gegen wi­drigste Bedingungen ebenso wie als Zeugnis vom Sieg der Gedanken über tödliche Kälte und die Zeit. Das tragbare Schreibpult, das Jane Austen 1794 von ihrem Vater geschenkt bekam, ist mit der Entstehung einiger der berühmtesten und meistgeliebten Romane der englischen Sprache verbunden. Der Spaziergang durch die Dauerausstellung der British Library im Londoner Stadtteil St. Pancras führt nicht nur in die Vergangenheit des Königreichs. Aus den Kästen leuchtet mit Handschriften und Objekten auch das Vermächtnis einer Spezies, die noch im Scheitern manches hinbekommen hat.

Das einzige erhaltene Manuskript des altenglischen Versepos „Beowulf“, zwei der vier verbliebenen Exemplare der Magna Carta, mit der Monarch und Adel sich 1215 auf einer Wiese an der Themse auf Gewaltenkontrolle und Grundrechte verständigten, mehrere First Folios – die ersten gesammelten Werke Shakespeares, die seine Freunde 1623, sieben Jahre nach dem Tod des Dramatikers, veröffentlichten – sowie handgeschriebene Gedichte Emily Brontës gehören zu den Schätzen der Treasure Gallery. Auch zwei Exemplare der Gutenberg-Bibel sind im Besitz der Bi­bliothek, ebenso frühe Karten der Erde und die ersten Fotos vom Mond. Handschriften und frühneuzeitliche Druckerzeugnisse strahlen im Halbdunkel in Vitrinen, von denen sich mancher Besucher erst nach mehreren Minuten losreißt, um dann doch noch einmal zurückzukehren.

 Die ersten gesammelten Werke Shakespeares sind in der British Library.
Die ersten gesammelten Werke Shakespeares sind in der British Library.Clare Kendall

Zweitgrößte Bibliothek der Welt

Wer dazu neigt, an Bahnhöfen und Flughäfen Druckerzeugnisse zu hamstern aus Angst, im Abteil oder in der Luft womöglich aufs Trockene zu geraten, kann hier durchatmen. Mit 25 Millionen Büchern besitzt die British Library den zweitgrößten Buchbestand der Welt nach der Bibliothek des Kongresses in Washington, D.C. Hinzu kommen rund 125 Millionen Zeitschriften, Zeitungen und Karten, aber auch Tonträger, Briefmarken, Drucke und Gemälde. Von jedem Buch, das im Vereinigten Königreich erscheint, und auch von jeder Zeitung wird hier ein Exemplar hinterlegt. „Für Forschung, Inspiration und Genuss“ sei sie gedacht, so steht es schon auf der Website der British Library. Es ist nicht zu viel versprochen.

»Studenten galten in Oxford als aufge­blasene Rowdys, die sich betranken und ihre Rechnungen nicht bezahlten.«

Farblich ist der 1997 fertiggestellte Bau an den roten Backstein des Viertels St. Pancras und insbesondere an den benachbarten Komplex aus dem 1873 eröffneten und 1935 geschlossenen Bahnhofshotel  – das seit 2011 ein zweites Leben als Hotel begann – und dem Bahnhof selbst angepasst. Ein Turm in der Mitte beherbergt die King’s Library, die Büchersammlung Georges III. mit 65.000 Bänden. Die Nationalbibliothek entstand 1973 aus der Bibliothek des Britischen Museums sowie anderer Sammlungen wie der des britischen Patentamtes, verblieb aber zunächst im riesigen Britischen Museum in Bloomsbury. In seinem Kuppelsaal versenkte sich Karl Marx in die Arbeit an seinem „Kapital“, George Bernard Shaw und Virginia Woolf, die womöglich größte Autorin des 20. Jahrhunderts, kamen regelmäßig zu Recherche und Lektüre.

Latein als Studentensprache

Vor der British Library erstreckt sich eine weite, unterhalb der Straße gelegene Terrasse. Ein Café, Hecken und steinerne Bänke geben ihr Struktur und Sinn, der 1998 gepflanzte Anne-Frank-Baum erinnert außer an seine Namenspatin an alle Kinder, die im 20. Jahrhundert durch Kriege und Konflikte ums Leben kamen. Weniger bedrückend ist die hauseigene Buchhandlung. Sie misst vor allem den „British ­Library Crime Classics“, zu Unrecht vergessenen und neu aufgelegten Krimis aus dem frühen 20. Jahrhundert, und der womöglich noch attraktiveren hausgemachten Reihe „British ­Library Women Writers“ mit Titeln von einst populären und später vernachlässigten Autorinnen der Zehner- bis Vierzigerjahre viele Regalmeter zu.

Das Hauptgebäude­ in St. Pancras fügt sich gut in die ­Umgebung ein.
Das Hauptgebäude­ in St. Pancras fügt sich gut in die ­Umgebung ein. (c) ©The British Library Board

Als die Magna Carta abgefasst wurde, strömten Studenten bereits in großer Zahl nach Oxford. In der Stadt galten sie als aufgeblasene Rowdys, die sich betranken, ihre Rechnungen nicht bezahlten und Latein miteinander sprachen. Die Verstimmungen zwischen town and gown dauerten jahrhundertelang an, doch wurde hier entgegen anderslautender Gerüchte immer auch studiert – vor allem in den Bibliotheken von Colleges und Uni. Die „Bod“, wie die Universitätsbibliothek Oxfords kurz, aber liebevoll genannt wird, ist seit Anfang des 17. Jahrhunderts, als sie die von Herzog Humfrey von Gloucester gestiftete und 1550 zerstörte Bibliothek ersetzte, ständig erweitert worden. Heute besteht sie aus mehreren eindrucksvollen Bauten im Zentrum der Stadt.

»Was in Oxford 1602 mit zweitausend gestifteten ­Bänden begonnen hatte, geriet bald außer Kontrolle.«

Was 1602 mit zweitausend vom Diplomaten Sir Thomas Bodley gestifteten Bänden begonnen hatte, geriet bald außer Kontrolle, zumal schon ab 1610 eine Ausgabe jedes auf der Insel erschienenen Buchs hier deponiert wurde. 1914 war der Bestand auf eine Million Bücher angewachsen. Heute sind große Teile des Zentrums mit Regalfläche unterkellert, um den dreizehn Millionen Druckerzeugnisse umfassenden Besitz der zweitgrößten Bibliothek des Landes (nach der British Library) zu fassen. Seit 2010 trägt die zentrale Universitätsbibliothek in Anerkennung der 25 ihr zugehörigen Bibliotheken in der Stadt Plural und heißt somit The Bodleian Libraries.

Raritäten

Die ungezählten Schätze der Libraries – darunter eine Bibel Elizabeths  I. aus dem Jahr 1584, fiktive Landkarten von C. S. Lewis und J. R. R. Tolkien, die beide in Oxford lehrten, chinesische Karten aus dem 17. Jahrhundert, arabische Handschriften und europäische Stundenbücher aus dem Mittelalter – werden durch wechselnde Ausstellungen ans Licht gespült, viele sind in der für Raritäten zuständigen Weston-Bibliothek zu sehen.

Zweitgrößte ­Bibliothek der Welt. Die British Library besitzt 25 Millionen Bücher.
Zweitgrößte ­Bibliothek der Welt. Die British Library besitzt 25 Millionen Bücher.British Library

Die Divinity School, die in den ersten beiden Harry-Potter-Verfilmungen als Krankenflügel des Zauberinternats Hogwarts aufgetreten ist, gehört ebenso zum Komplex wie die Radcliffe Camera, ein Rundbau aus dem 18. Jahrhundert. Er beheimatet einen Lesesaal von nahezu unwirklicher Schönheit, dessen obere Etage als Galerie Blicke in Kuppel und ins Parterre öffnet. Der Leibarzt Queen Annes stiftete den Bau und hinterließ ihm auch seinen Namen.

Wer nicht in Oxford eingeschrieben ist, kann bei Bibliotheksführungen einen Blick hineinwerfen. Eine der schönsten ­Bibliotheken ist die Duke Humfreys Library mit gotischen bleigefassten Fenstern und warm beleuchteten Leseplätzen. Von 1610 bis 1612 erbaut, erwarb sie vierhundert Jahre später als Bibliothek von Hogwarts Leinwandruhm. Eröffnet wurde diese Bibliothek schon 1488. Diese älteste Universitätsbibliothek Oxfords fiel indes 1550 einer einsamen Zensur zum Opfer, als der Dekan des Colleges Christ Church beschloss, die englische Kirche von schädlichen katholischen Einflüssen zu reinigen  – mitsamt aller abergläubischen Bücher und Bilder. Er entfernte alle Bücher aus der Bibliothek und verbrannte die meisten. Dass die Bücher der Bodleian noch bis 1860 an den Regalen angekettet wurden, leuchtet vor diesem Hintergrund ein.

("KULTURMagazin" vom 5.5.2023)

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