Das plötzliche Aufleben des Calcio

Analyse. Erstmals seit 33 Jahren könnten drei italienische Klubs Europacup-Titel gewinnen. Doch wie viel Nachhaltigkeit versteckt sich in dieser glänzenden Bilanz?

Wien. Es bedarf schon ein wenig Fußballerfahrung, um den aktuellen Höhenflug des italienischen Klubfußballs einordnen zu können. Dass mit Inter Mailand (Champions League), AS Roma (Europa League) und Fiorentina (Conference League) gleich drei italienische Mannschaften in den kommenden Wochen um Europas Trophäen spielen werden, hat Seltenheitswert, wie ein Blick in die Geschichtsbücher zeigt. Der Glanz von Diego Maradona strahlte gerade hell in Neapel, als Italien 1990 zuletzt eine ähnliche Erfolgsbilanz vorzuweisen hatte: AC Milan im damaligen Cup der Landesmeister, Juventus im Uefa-Cup (sogar in einem rein italienischen Finale gegen Fiorentina) und Sampdoria Genua im Cup der Pokalsieger.

Von einer „großen Revanche des Calcio“ oder „wahrer Glorie“ schwärmte 33 Jahre später also die „Gazzetta dello Sport“ bereits in Anbetracht von fünf Halbfinalisten (Inter schaltete Stadtrivalen Milan aus; Juventus scheiterte am FC Sevilla). Und tatsächlich schlägt sich dieser Aufschwung nieder. Auch wenn die einstige Vormachtstellung (bis ins Jahr 2000 führte die Serie A die Uefa-Fünfjahreswertung an) dahin ist: Für 2024 wird Italien die deutsche Bundesliga im Ranking wieder auf Platz drei ablösen. Wie lässt sich diese Renaissance also erklären? Und vor allem: Wie nachhaltig wird sie sein?

Große Baustellen

Fest steht: Eine Titelflut allein wird die Probleme im italienischen Klubfußball nicht über Nacht lösen. In den vergangenen zwölf Jahren haben die Profiklubs ihren Schuldenberg auf vier Milliarden Euro verdoppelt, was einige offenbar zu illegalen Mitteln greifen ließ. Der 15-Punkte-Abzug gegen Rekordmeister Juventus wegen Bilanzfälschung wurde erst vom Obersten Gerichtshof ausgesetzt, Sampdoria entkam Sanktionen nur dank eines freiwilligen Gehaltsverzichts von Spielern und Mitarbeitern.

So löchrig wie mancher Geschäftsbericht ist auch die allgemeine Stadieninfrastruktur, zudem sind Ausschreitungen zwischen Ultras (in dieser Saison gab es zweimonatige Auswärtsspielverbote für die Anhänger von Roma und Napoli) und Rassismus nach wie vor ein leidiges Thema.

Und auch zum Geschehen auf dem Rasen gibt es mahnende Worte, allen voran von Teamchef Roberto Mancini. „Ich würde nicht von einer Wiedergeburt des italienischen Fußballs sprechen“, kommentierte der oberste Fußballlehrer den aktuellen Höhenflug. „Das könnten wir sagen, wenn 33 Italiener bei Milan, Napoli oder Inter spielen würden, aber das ist eben nicht der Fall.“ Vielmehr zählten die Startelfs von Inter und AS Roma in den Halbfinal-Rückspielen je fünf, Fiorentina vier einheimische Profis. Im Gegensatz zu Italiens erfrischender Europameister-Kür versprühen zudem weder Inters Altherren noch Mourinhos römische Zerstörer die Hoffnung auf eine spielerische Neuerfindung.

Dass die Serie-A-Vertreter trotz limitierter Kaderressourcen am Ende einer kräftezehrenden WM-Saison vorn mitmischen, sehen manche Experten vielmehr simpel in der bitteren Zuschauerrolle des Europameisters beim Winterturnier in Katar begründet. Unter den zehn Teams mit den meisten WM-Abstellungen fand sich mit Milan nur ein italienisches (zum Vergleich: sechs aus der Premier League). Diese unfreiwillige Regeneration könnte nun den langen Atem begründen.

Die Zeichen lassen Tifosi jedenfalls hoffen: Auch 1990 gewann Napoli den Scudetto – und Italiens Europacupfinalisten stemmten letztlich die begehrten Trophäen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.05.2023)

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