Experten-Talk. Die sogenannten DIGAs rücken im Gesundheitswesen immer stärker in den Vordergrund. Patient:innen erhoffen sich von den digitalen Helfern Unterstützung bei Diagnose und Therapie, das Gesundheitswesen rechnet mit Milliardenbeträgen an Einsparungen.
Kommen digitale Gesundheitsanwendungen zur Sprache, empfiehlt sich zunächst eine Begriffsbestimmung, um bestehende Auffassungsunterschiede aufzulösen. Denn viele Akteure im Gesundheitswesen, insbesondere im Bereich der öffentlichen Verwaltung oder Sozialversicherung, reden bei den sogenannten DIGAs von Anwendungen, die etwa die Abwicklung von Verrechnungen erleichtern – und damit am Thema vorbei. DIGAs sind Medizinprodukte, sprich digitale Helfer in der Hand von Patient:innen, denen sie vielfältige Möglichkeiten eröffnen, indem sie bei der Erkennung und Behandlung von Krankheiten sowie auf dem Weg zu einer selbstbestimmten gesundheitsförderlichen Lebensführung unterstützend verwendet werden. Immer häufiger kommen sie vor allem bei verschiedenen chronischen Erkrankungen (Diabetes, Depression, Demenz, Multiple Sklerose, …) oder psychischen und neurologischen Erkrankungen therapiebegleitend, aber auch in der Prävention zur Anwendung.
Ruf nach DIGAs auf Rezept
Die Zahl der DIGAs sowie ihre Versorgungsrelevanz steigen laufend. Dies wirft eine Reihe von Fragen auf, vor allem in Österreich, wo DIGAs – im Unterschied zu Deutschland, Frankreich oder Belgien – noch nicht auf Rezept verfügbar sind und somit von den Kostenträgern nicht erstattet werden können. Wie sollen sie also den Weg zu den Patient:innen finden? Wie kann die Integration von digitalen Lösungen in die österreichischen Versorgungsstrukturen gefördert werden? Und wie stellt man sicher, welche digitalen Angebote überhaupt vertrauenswürdig sind? Fakt ist, dass zahlreiche Konzepte für einen Prozess, der DIGAs auch in Österreich verschreibbar macht, bereits auf den Tischen der Entscheidungsträger:innen aus Politik, Verwaltung und Selbstverwaltung liegen. So zum Beispiel ein „Vertrauenssiegel“, das zum Ziel hat, bereits nach MDR (EU-Medizinprodukteverordnung) zertifizierte Anwendungen einem Österreich-spezifischen Sicherheitscheck zu unterziehen und sie damit für eine etwaige Erstattungsentscheidung vorzubereiten. Offene Fragen dazu wurden auch beim Austrian Health Forum angesprochen: Welche Hindernisse müssen bis wann aus dem Weg geräumt werden, um endlich zu einer Entscheidung für DIGAs in Österreich zu kommen?

Österreichischer Weg
Geht es nach Vergaberechtsexperten Martin Schiefer, kann man bei diesem Prozess von anderen Ländern lernen, im Guten wie im Schlechten. Deutschland zum Beispiel sollte nur beschränkt als Vorbild dienen: „Unsere Nachbarn haben zwar schnell erkannt, dass man mit DIGAs arbeiten sollte, aber sie haben gleichzeitig ein sehr schwieriges Zulassungs- und Erstattungsprozedere entwickelt, das alles andere als innovationsfreundlich ist.“ In Österreich sollte man dem laut Schiefer nicht nacheifern, sondern vielmehr eigene Wege gehen: „DIGAS passen grundsätzlich gut in den heimischen Erstattungskodex und eine Verankerung im Allgemeinen Sozialversicherungsgesetz, ASVG, wäre gar nicht so schwierig. Wichtig ist bei alldem, eine einfache Lösung zu finden und innovative Start-ups in den Prozess, etwa mit frühen Förderungen, miteinzubinden. Dem stimmt auch Alexander Biach, Standortanwalt und Direktor-Stv. der Wirtschaftskammer Wien, zu: „Der Vergabeprozess muss zu einem Innovationsprozess werden. Letzten Endes sprechen wir bei DIGAs ja auch von einem bedeutenden Wertschöpfungsfaktor.“ Man sollte den freien Wettbewerb der Ideen fördern, dann könnte Österreich zu einem attraktiven Standort für kreative DIGA-Start-ups werden. Von Bedeutung sei deshalb ein öffentlicher Vergabeprozess, der ganz klar u. a. Behandlungszeiträume und finanzielle Rahmen definiert – nach dem Motto: Festlegen, ausschreiben und der beste Anbieter möge gewinnen, der dann in den Erstattungsprozess hineingenommen wird und sein Produkt damit absetzen kann. Laut Martin Schiefer wäre dies in Österreich sogar relativ einfach machbar: „Das Thema Vergaberecht und Ideenwettbewerb, z. B. in der Architektur. Es geht einfach um klassisch funktionale, niederschwellige Ausschreibungen, bei denen man relativ schnell und ohne große Aufwendungen zu Ergebnissen kommt.“

Regelung des Datenproblems
Einig sind sich beide Experten, dass der Datenschutz das alles nicht verhindern darf. Man muss nur kreativ damit umgehen und Datenschutz rechtlich in Datenspende von Betroffenen übersetzen“, so Martin Schiefer. Daten und Infrastruktur wären in Österreich grundsätzlich vorhanden, betont Alexander Biach. So gibt es seit 2021 ein Forschungsorganisationsgesetz, gepaart mit dem Statistikgesetz, das einen Datennutzungsraum vorsieht. Mitte Juli 2022 ist das in der Statistik Austria angesiedelte Austrian Micro Data Center (AMDC) online gegangen. Mit der Kombination von Datenbeständen und einem datenschutzkonformen Zugang, der der Wissenschaft bisher verschlossen war, ermöglicht das AMDC grundsätzlich innovative Forschung. Forschende können sich einloggen und Daten kombinieren, um Erkenntnisse zu gewinnen. „Die Frage ist nur: Welche Daten werden in das AMDC reingelassen? Dies geht nur per Verordnung vom Ministerium. Und das geschieht im Gesundheitswesen zu wenig. Dabei hätten wir in Österreich so viele Daten, die man gut kombinieren und anonymisiert weitergeben könnte“, bemängelt Biach. Patient:innen würde das teils einen langen Leidensweg ersparen, weil mit diesen Daten Krankheiten früher diagnostizierbar sind. Der Wirtschaft würden so wiederum Kosten erspart bleiben. „Wir haben das technische Rüstzeug und die Daten. Wir trauen uns nur nicht, den nächsten Schritt zu gehen“, so Biachs Fazit.
„Was wir besonders dringend brauchen, sind die Daten rund um die Patient:innen, die für eine schnelle Rückmeldung sorgen, etwa bei der Frage, wie sich eine DIGA in der Behandlung bewährt. Betroffene sind in der Regel ja gern bereit, diese Daten freizugeben, weil sie sich das für ihren eigenen Vorteil wünschen“, sagt Martin Schiefer und verweist zugleich auf die Problematik des europarechtlich getriebenen Datenschutzes. „Das macht die Sache kompliziert. Deshalb sollten wir uns auf das konzentrieren, was wir in Österreich regeln können, z. B. Start-ups nicht vom Wettbewerb fernhalten, Ideen von Jungunternehmern wertschätzen, Vertragssicherheit geben. Kleine Schritte führen zum Erfolg.“
Milliarden-Ersparnis
Klar ist sowohl für Martin Schiefer als auch für Alexander Biach, dass es eine deutliche Willenskundgebung seitens der heimischen Politik braucht. Will Österreich bis 2025 eine führende europäische Kraft in Sachen DIGAs werden, muss die Politik vorangehen, damit diese danach in der Wirtschaft ausgerollt werden können. Hoffnung setzen die Experten dabei auf den Markt und den Druck von unten, sprich jenen der Patient:innen und Ärzt:innen.
„Im Grunde geht es darum, mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln in Österreich ein Mikroklima zu schaffen, das innovationsfreundlich ist. Wir benötigen einfache niederschwellige Prozesse, die junge Unternehmen nicht verschrecken, sondern ermutigen, ihren Weg zu gehen. Das soll gefördert werden.“ Nur dann werden Start-ups DIGAs erfolgreich entwickeln und auf den Markt bringen und damit nicht nur sich selbst und den Patient:innen, sondern der gesamten Volkswirtschaft einen Dienst erweisen – ein Dienst, der sich in Zahlen fassen lässt: So hat die Wirtschaftskammer Wien errechnet, dass mit dem flächendeckenden Einsatz von DIGAs die Dauer der Belegstage in Krankenhäusern von 8,3 auf 7,6 Tage sinken würde. Bei 1300 Euro Tageskosten für ein Spitalsbett würde die Gesamtersparnis im Gesundheitswesen rund 1,5 Milliarden Euro betragen, Primärprävention noch gar nicht eingerechnet.