Interview

Chef von Pompeji: "Wir sehen jetzt, wie instabil diese Gesellschaft schon vor dem Untergang war"

(c) LightRocket via Getty Images (Marco Cantile)
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Hatte Pompeji viel, viel mehr Menschen als lange gedacht? Und war es schon vor dem Vesuvausbruch ökonomisch auf der Kippe? Gabriel Zuchtriegel, Chef des weltweit berühmten Archäologischen Parks, über Sklavenzimmer, Raubgräber und sein neues Pompeji-Buch.

Gegen ein zu „schönes“ Antikenbild hat Gabriel Zuchtriegel einst als Student aufbegehrt, indem er über Toiletten forschte. Mit nur 33 Jahren wurde er Direktor des Archäologischen Parks der italienischen Ruinenstätte Paestum - zu jung, zu unerfahren, protestierten in Italien viele, noch dazu ein Deutscher ... Er integrierte unkonventionelles Zusatzprogramm, die Besucherzahlen schnellten nach oben. Mit nur 39 schließlich war er Leiter jener antiken Ausgrabungsstätte, die alle Welt zum schaurigen Träumen bringt: Pompeji. Nach Proteststürmen gegen seine Ernennung (zwei Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats traten zurück) hat sich die Lage beruhigt. „Die Presse“ spricht mit ihm über sein neues Pompeji-Buch „Vom Zauber des Untergangs“.


In den vergangenen Jahren gab es nach langem wieder große Grabungen in Pompeji, zu den Funden zählte etwa ein ganzes Sklavenzimmer. Wie haben all diese Ausgrabungen und Forschungen das Bild von Pompeji verändert?

Sandro Michahelles

Für mich war der größte Effekt zu sehen, wie sozial und wirtschaftlich prekär die Situation war. Das war keine Stadt, die in einem stabilen Gleichgewicht vor sich hin lebte. Das Leben, das oft in Schulbüchern durch die Fresken in den Patrizierhäusern vermittelt wird, war das einer winzigen Minderheit, das Leben der Mehrheit war schwierig und mit vielen Risiken behaftet – Kindersterblichkeit, soziale Verwerfungen, Ernährungslage . . . Unter den Graffitis, von denen die Stadt voll war, findet man neben unsäglich schweinischen auch Grüße an Leute. Manchmal steht dabei „ubique“, also „wo immer du seist“. Das erzählt von einer Gesellschaft, wo man den anderen leicht verlieren konnte. Es konnte sogar passieren, dass man auf der Straße von Sklavenräubern entführt und verkauft wurde. Wir schmunzeln gern über die Komödien von Plautus, wenn zum Beispiel ein Mädchen entführt wird und viele Jahre später wiedergefunden wird. Ödipus wird als Kind ausgesetzt. Das gehörte zum Leben. Menschen, die verschwinden, einander verlieren, Schicksale, die von einem Tag auf den anderen umgestürzt werden.


Die Bevölkerungszahl von Pompeji haben Forscher im Lauf der Zeit extrem unterschiedlich eingeschätzt, aber nie auch nur annähernd so hoch, wie eine vor wenigen Jahren gefundene Grabinschrift vermuten lässt. Bis zu 45.000 Menschen könnten es demnach gewesen sein, das ist eine völlige Umwälzung. Aber kann man dieser Grabinschrift trauen?

Das kann man natürlich immer in Zweifel ziehen und es gibt in dieser Rekonstruktion zahlreiche Annahmen, die man anzweifeln könnte. Wir führen hier natürlich kein Steuerregister. Dennoch glaube ich, dass das in der Größenordnung stimmen kann. Vielleicht bringen uns künftige Funde weiter.


In Ihrem Buch ermuntern Sie dazu, Pompeji unmittelbar wahrzunehmen, sich das Erleben nicht zu sehr durch Vorwissen zu verstellen. Schwierig, denn Pompeji ist ja so etwas wie ein kollektiver Mythos.

Das Problem ist oft gar nicht der Mythos, sondern die Erwartung, durch aufgeschnapptes Vorwissen Pompeji näher zu kommen. Oft ist das aber eher ein Hindernis. Natürlich ist Wissen auch wichtig. Ich will aber dazu ermutigen, diese Brille zwischendurch mal abzusetzen, man kann sie dann ja wieder aufsetzen. Der Ausgangspunkt sollte sein, erst einmal den Ort auf sich wirken zu lassen. Dann ist man auch viel aufnahmefähiger für Fakten. Verlässt man sich auf die Wissensschiene, führt das oft zu Enttäuschung, der Ort erschließt sich einem nicht. Das ist ein Problem unseres Zugangs zu Kultur überhaupt, dass man ein Werk, einen Ort nicht direkt sprechen lässt.


Richten Sie diese Kritik auch an Ihre eigene Zunft, die Altertumswissenschaften?

Ich sehe das sehr wohl als generelles Problem der Altertumswissenschaften. Früher war die Antike für alle interessant, heute ist dieser Bezug nicht mehr so wirkmächtig. Wenn die Klassische Archäologie sich die Sinnfrage nicht wirklich neu stellt, wenn sie nicht konstruktiv und offensiv zeigt, wir haben trotzdem noch etwas zu sagen, dann verurteilt sie sich zum nostalgischen Dahinvegetieren. Mir geht es in meinem Buch auch darum, diese Sinnfrage zu stellen.


Dass Pompeji ein unvergleichlicher Ausgrabungsort ist, ist kein Mythos, sondern schlichtes Faktum. Warum vor allem? Weil man durch die Abgüsse der menschlichen Körper und die Überreste der Stadt Leben direkt im Augenblick des Sterbens zu sehen bekommt?

Ich glaube, auf der einen Seite ist es wirklich unvergleichlich und einzigartig durch die Erhaltungsbedingungen und die Zerstörung, die diese verursacht hat. Man kann die letzten Momente dieser Menschen nachvollziehen. Auf der anderen Seite ist da dieser Wiedererkennungseffekt, denn Pompeji ist auch eine ganz gewöhnliche Stadt. Es werden ja immer noch Opfer gefunden, und ich erinnere mich, wie ein Archäologe auf einer Baustelle da gesagt hat: „Das sind wir.“ Es ist eine Geschichte, die von uns allen spricht, wir alle sind endlich, wissen nicht, wann unser letztes Stündchen schlägt. Die Pompejaner wussten nicht, dass sie auf einem Vulkan leben, sie haben den Tag des Ausbruchs ganz normal begonnen.


Diese Menschen scheinen uns so nah, andererseits ist vieles für Europäer kaum noch verständlich, etwa ihre selbstverständliche Spiritualität . . .

Richtig, auch darum geht es in meinem Buch. Diese Andersartigkeit der antiken Welt fand ich immer unglaublich faszinierend. Sie zeigt auch, wie sehr wir uns gewandelt haben. Wir haben so vieles von dort übernommen, Begriffe, aber auch eine Art Ordnungssystem und die christliche Religion, die ja 500 Jahre früher oder später vielleicht gar nicht so aufkommen hätte können – diese Welt hat ja auch eine Infrastruktur für die Verbreitung bereitgestellt, die dann wieder zerbrach. Zugleich ist es eine komplett andere Welt.


Glauben Sie, in Weltgegenden, wo man Göttern tägliche Opfergaben bringt, kann man die antike Religiosität heute besser nachvollziehen?

Ja, und das war im Grunde seit dem 18. Jahrhundert schon Thema: Die Antike wirkt für uns fremd auch indem wir Übereinstimmungen erkennen zwischen antiken Kulten und ganz anderen Kulturen von Indonesien und Australien bis Nordamerika, die damals überhaupt erst richtig ins Blickfeld der Europäer kamen. Schon damals erkannte man, da gibt es ja Ähnlichkeiten, die größer sind als die mit unserer Welt.


Raubgräber rauben, wie Sie schreiben, nicht nur Werte, sondern auch den Kontext der Funde. Wie groß ist das Problem heute?

Es ist besser geworden, aber sie richten immer noch erhebliche Schäden an. Sie haben zum Beispiel im Umkreis ein Haus und graben vom Keller aus Gänge, die auf benachbarte Grundstücke führen, plündern das systematisch. Oder sie graben auf verlassenen, brachliegenden Feldern. Und der Grund für ihre Existenz ist, dass es immer noch Leute gibt, die das kaufen.


Sie haben unter anderem im Park ein Theaterprojekt aufgezogen mit sozialem Hintergrund, Jugendliche spielen antikes Theater. Was sind die wichtigsten Projekte, die Sie als Direktor noch verwirklichen wollen?

Der Aspekt der Landwirtschaft ist noch stark ausbaufähig, wir produzieren Wein und züchten Schafe. Dann möchte ich didaktisch neue Ansätze verwirklichen und dem überhaupt mehr Raum geben. Ganz wichtig ist die Erhaltung und die Digitalisierung, wobei diese zwei Dinge miteinander zusammenhängen. Ich will präventiv arbeiten, damit Pompeji nicht wie vor zehn Jahren in eine Situation kommt, wo es einen Rettungsplan braucht (vor einem Jahrzehnt war Pompeji vom Verfall bedroht, die Regierung erarbeitete einen Restaurierungsplan, Anm. d. Red.).

Als Sie 2021 in Pompeji anfingen, wurden Sie heftig attackiert. Sind diese Stürme jetzt vorbei?

In meinem Fall ja, aber die große Auseinandersetzung bleibt ein Thema in Italien: zwischen einer alten Schule von Museumsleitern, Denkmalspflegern, Archäologen, und einer neuen, die zwar vieles weiterführen, aber doch einiges anders machen will.

Person und Buch

Gabriel Zuchtriegel, 41-jähriger Klassischer Archäologe aus Schwaben, wurde 2021 Direktor einer der weltweit berühmtesten Ausgrabungsstätten, des Archäologischen Parks von Pompeji bei Neapel.

Sein Buch „Vom Zauber des Untergangs. Was Pompeji über uns erzählt“ ist ein persönliches Erzählen von und Nachdenken über Pompeji – und über unser Verhältnis zur Vergangenheit: 237 Seiten, 29,90 Euro, erschienen im Propyläen-Verlag.

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