Amanshausers Album

Ein Treffen mit der Familie der Untoten

Martin Amanshauser
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Am Alberner Hafen, am einzigen Flussfriedhof der Welt – für Namenlose, traf ich drei Untote.

Am Ende der Wiener Welt, im hintersten Simmering, sagen sich Getreidesilos und Flusskräne gute Nacht. Bis 1939 fing ein Wasserwirbel auf dieser Höhe der Donau an die 600 Ertrunkene ein, bestattet auf zwei Friedhöfen, dem alten (1840–1900) im Schwemmgebiet, jüngst aufgelassen, und den neueren „Friedhof der Namenlosen“ mit Gräbern für 1900–1940 angelandete Wasserleichen. Auf schmiedeeisernen Kreuzen sind sie ­großteils als „namenlos“ bezeichnet. Mir ­verursachte das Grab eines elfjährigen Buben, Wilhelm Thön, 1904 „ertrunken von fremder Hand“, immer den gruseligsten Schmerz. Bis heute bringen ihm Leute kleine Plüschtiere vorbei.

Auch diesmal verbreitete der Friedhof seine wohlbekannt beklemmende Stimmung. Ich suchte das Gasthaus. Früher stand das in nächster Nähe. Keine Spur davon. Jemand sagte mir, es sei vor ­einigen Jahren nach einer Überschwemmung abgerissen worden. Andere Passanten irrten umher wie ich. Ein Paar mit einem etwa fünfjährigen Kind, auffällig mager, doch mit aufgedunsenen Gesichtern, wandelte an mir vorbei. Das Kind stolperte mehr als es ging. Murmelnd grüßte mich die Mutter. Sie wirkte desorientiert. Weiter vorn saß mitten auf ­der Straße ein Schwan mit blutigem ­Schnabel. Ein Auto kam nicht an ihm vorbei. Kopfschüttelnd stieg ich auf den Damm.

Ein paar Minuten später kam erneut die seltsame Familie, sehr aufrecht dahinschreitend, verstörten Blicks. Auf Gasthofsuche? Auf dem Weg zum Friedhof? Das Kind sah mich erschöpft an. Sein Gesicht war fleckig, hellblau angelaufen. Die Mutter starrte ausdruckslos, der Vater abwesend über das fließende Wasser. Alle drei wirkten wie . . . Schlagartig wurde mir etwas Schauderhaftes gewärtig. Waren diese drei hier einst ersoffen aus den Fluten der Donau gefischt ­worden? Kamen sie als Untote nicht mehr zur Ruhe? Meine Hände zitterten. Während sie über den Friedhof taumelten, bevor sie im Schwemmgebiet verschwanden, machte ich verstohlen zwei Fotos von ihnen. Daheim sah ich mir die Bilder an. Alles war drauf, alles war scharf – doch die Familie der Untoten hatte sich auf ihnen nicht abgebildet. 

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