Migration

"Take back control"? Großbritannien erlebt trotz Brexits Rekord-Zuzug

Der britische Premierminister Rishi Sunak am 24. Mai 2023.
Der britische Premierminister Rishi Sunak am 24. Mai 2023.IMAGO/ZUMA Wire
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2022 wanderten 600.000 mehr Menschen ein, als das Land verließen. Die Regierung steht unter Druck. Der Wunsch nach mehr Kontrolle über die eigenen Grenzen galt als einer der wichtigsten Gründe für den EU-Austritt.

Trotz des Brexits hat der Zuzug von Menschen nach Großbritannien im vergangenen Jahr einen Rekordwert erreicht. Damit gerät die konservative Regierung, die versprochen hatte, die Zuwanderung deutlich einzuschränken, zunehmend in Erklärungsnot. Die Zahlen seien "zu hoch", sagte Premierminister Rishi Sunak am Donnerstag. Konservative Hardliner dürften nun noch lauter schärfere Maßnahmen gegen Migranten fordern.

"Take back control" - der Wunsch nach mehr Kontrolle über die eigenen Grenzen - war eine der wichtigsten Parolen der Brexit-Befürworter. Tatsächlich wanderten 2022 einer Schätzung zufolge gut 600.000 Menschen mehr nach Großbritannien ein, als das Land verließen, wie das Statistikamt ONS mitteilte. Das waren 118.000 mehr als noch 2021. Der frühere Regierungschef Boris Johnson hatte versprochen, die Zuwanderung auf unter 250.000 Menschen pro Jahr zu senken.

Zahl der Zuwanderer steigt - aus Nicht-EU-Ländern

Die neuen Daten bestätigen: Die Zahl der eingewanderten EU-Bürger sinkt seit dem Brexit beständig, hingegen ist die Zahl der Nicht-EU-Bürger enorm gestiegen. Das liegt vor allem daran, dass Menschen aus der EU seit 2021 ein Visum benötigen, um im Vereinigten Königreich zu leben und zu arbeiten. 2022 zogen 151.000 EU-Bürger ins Land, das waren 13 Prozent aller Zuzügler und 45.000 weniger als 2021. 2018 machten sie noch mehr als die Hälfte (52 Prozent) aus.

Hingegen kamen 925.000 Nicht-EU-Bürger. Das lag auch an einer großen Zahl von Flüchtlingen: 200.000 aus der Ukraine und 150.000 aus Hongkong. Der Anteil schutzbedürftiger Migranten an der Gesamtzahl erhöhte sich von neun auf 19 Prozent.

Fachkräftemangel verschärft

Doch vor allem ist es eine Folge des Brexits: Denn ohne die nun fehlenden EU-Bürger ist der Fachkräftemangel noch viel offensichtlicher geworden. So gab es etwa in der Gastronomie viele Südeuropäer aus Italien, Spanien und Portugal. Osteuropäer aus Rumänien und Bulgarien arbeiteten in der Fleischverarbeitung und der Landwirtschaft, Polen in der Pflege und in Krankenhäusern.

Sie haben Lücken hinterlassen, die Briten nicht füllen wollen oder können. Deshalb wurden Hunderttausende aus anderen Teilen der Welt ins Land geholt. Als Beispiel nennt die Migrationsforscherin Madeleine Sumption von der Universität Oxford die Einführung von Langzeitarbeitsvisa für Pflegekräfte. Die größten Gruppen kommen aus Nigeria, Indien und Ghana. Die Branche sei von Kräften aus ärmeren Staaten abhängig, kritisieren Experten.

Zugleich wächst die Liste der Branchen beständig, die von den scharfen Visa-Regeln ausgenommen werden. Erst vor kurzem wurden Fischer ergänzt - das Versprechen, der Brexit helfe der heimischen Fischerei, hat sich noch nicht erfüllt. Beim EU-Handel mit frischen Produkten kommt es vielmehr seitdem zu Hemmnissen.

Brexit-Hardliner hingegen fordern, freie Stellen mit Britinnen und Briten zu füllen. "2,5 Millionen Menschen sind langfristig krankgeschrieben. Viele behinderte Menschen, die arbeiten wollen, finden keine Arbeit", sagte der Tory-Abgeordnete John Hayes dem Sender BBC Radio 4. Die Rechtskonservativen kritisieren, Arbeitgeber erhielten keine Anreize, Briten einzustellen und auszubilden, solange sie günstigere ausländische Arbeitskräfte holen könnten. Doch die von Ex-Premier Johnson versprochene "high-wage, high-skill economy" - also eine Wirtschaft mit gut bezahlten und hoch qualifizierten Kräften - ist nicht in Sicht.

Visa-Beschränkung, Maßnahmen im Ärmelkanal

Um den Zuzug zu senken, kündigte die Regierung als ersten Schritt jüngst an, die Visa-Vergabe für Angehörige von Master-Studenten von 2024 an zu unterbinden. 2022 wurden 136.000 Visa für Partner oder Kinder von Studenten erteilt, mehr als acht Mal so viele wie noch 2019. Damit soll nun Schluss sein. Mit insgesamt knapp 1,5 Millionen Visa für Arbeit, Studium und Angehörige wurden im Jahr von April 2022 bis Ende März 2023 so viele ausgegeben wie nie zuvor.

Auch gegen die irreguläre Einreise über den Ärmelkanal will London härter vorgehen. Im vergangenen Jahr reisten etwa 45.000 Menschen in kleinen Booten über die Meeresenge nach Großbritannien ein. Mit schärferen Asylgesetzen soll ihnen der Zugang zu Schutz in Großbritannien künftig versagt werden. Dass die Zahl dieser nicht erwünschten Migranten zuletzt zugenommen hat, liegt auch am Brexit: Denn seitdem gibt es keine Rücknahmeabkommen mehr mit der EU. Wie das Innenministerium mitteilte, warten knapp 175.000 Menschen auf eine Entscheidung über ihren Asylantrag - auch das ein Rekord.

Der Ton hat sich verschärft. So bezeichnete Innenministerin Suella Braverman die Ankunft irregulärer Migranten als "Invasion". Ein andermal berichtete sie von ihrem "Traum", diese Menschen so schnell wie möglich abzuschieben. Kritiker warnen, die Rhetorik stachele zu Hass gegen Einwanderer an. "Es sei daran erinnert, dass jeder einzelne Mensch, der heute in Großbritannien lebt, der Nachkomme eines Einwanderers ist", sagte Peter Drechsler von der Internationalen Handelskammer in London der BBC.

(APA/dpa)

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