Wiener Festwochen

Antigone und das nachgespielte Massaker

Kurt Van der Elst
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Kann man die antike Tragödie in politisches Geschehen im heutigen Brasilien übersetzen? Milo Rau tut es mit Emphase - und zeigt zugleich, mit welchen Mitteln er arbeitet. Starkes Theater.

Antigone gegen Kreon, Naturrecht gegen positives Recht, Respekt vor dem Leben gegen menschliche Hybris: Wie jede große Tragödie stellt uns die „Antigone“ vor die Versuchung, ihre Polarität zu vergröbern, bis nur mehr ein Gut gegen Böse übrig bleibt und die Moral von der Geschichte verführerisch schlicht ist. Milo Raus Idee, den Widerstand von Brasiliens Landlosen gegen ihren Staat und die Konzerne mit dem Widerstand der Königstochter gegen ihren am Gesetz festhaltenden Onkel zu vergleichen und das Stück gleich mit Vertretern der Landlosenbewegung MST aufzuführen, scheint dafür besonders anfällig: Wer hätte kein Herz für die Sache der armen Landarbeiter, noch dazu, wenn sie für den Regenwald und überhaupt für „den Planeten“ eintreten? Wer findet in diesem Setting noch ein gutes Haar am Realpolitiker Kreon?

Milo Rau schafft das in seiner aus dem Niederländischen Theater Gent nach Wien übernommenen Produktion „Antigone im Amazonas", obwohl seine Sympathie unverkennbar und unverhohlen dem MST gehört. Er ist Dialektiker genug, um auch Kreon – bzw. der flämischen Schauspielerin Sara De Bosschere, die ihn mit tragischer Grandezza spielt – gute Sätze zu geben. „Als ich jung war, habe ich mich mit Antigone identifiziert“, sagt sie: „Jetzt bin ich alt und spiele natürlich den Kreon.“ Und später, beim großen Dialog mit Antigone, fast beiseite gesprochen: „Ich hasse diese naiven Idealisten.“ Man versteht sie/ihn irgendwie. Besonders bei den Szenen, wo das Pathos der MST-Vertreter allzu naiv wird. Wenn es etwa heißt: „Hier, in diesem Land der Liebe und des Kampfes, ist jeder Tag eine Revolution.“ Heiliger Che, bitte für uns! Oder wenn der indigene Philosoph Ailton Krenak, der den Part des Sehers Teiresias übernimmt, raunend ruft: „Die Erde hat Fieber! Sie klagt uns an.“ Mutter Gaia, erbarm dich unser!

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