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Wenn Putin mit der Schere kommt

Trümmer der Großen Armee, 1812. Farbdruck nach Carl Röchling.
Trümmer der Großen Armee, 1812. Farbdruck nach Carl Röchling. akg-images / picturedesk.com
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„Ich führe Russland wieder zur alten Größe, ich führe es heim ins Reich, aber natürlich geht das nicht mit Ihrem Friedensgefasel, Ihrem Pazifismus, Ihrem Wahn von der Versöhnung, Sie sind eine Gefahr für dieses Land, und diese Gefahr werde ich jetzt –“. Eine Erzählung von Krieg und Frieden und Tolstoj.

„Es wird eine Novelle“, sagt er zu seiner Frau, „größer geht's nicht. Sonst werde ich wahnsinnig.“ Er schließt die Tür.

Auch gut, denkt Sofja. Die Kinder plärren.

Das Hier-und-Jetzt kann Tolstoj sich nur als geworden vorstellen, nicht als einfach da. Dadurch hat sich eine Schwere auf sein Leben gelegt wie eine nasse Pferdedecke; er ist immer in Historie gehüllt, die an ihm heruntertrieft. In Wahrheit hält er sich nur aus, wenn er schreibt. Die Hölle – das kann nur ein Ort ohne Worte sein.

Gibt es sie also, die Hölle? Selbst Taube können Wörter stammeln. Kinder, wenn sie durch die Brache des Brabbelns gekrochen sind, kommen heil an dort, wo man sprechen kann. Und auf dem Schlachtfeld? Worte? Auf dem Amputationstisch? In Sewastopol hat er solche Sachen erlebt. 1856, im Krimkrieg. Die Grenze. Dort, wo die Worte. Wo sie so tun, als seien sie nicht da. Als gäbe es sie nicht. Er taucht die Feder ins Fass.

Puff!

Wer wagt es, vor seinem Fenster zu schießen? Wissen nicht alle, dass er immer morgens –

„Entschuldigen Sie“, sagt eine Männerstimme. Tolstoj hebt den Kopf und, wie sagt man das?, versteinert. Kurz.

Der dunkle Teint, das bockig-lockige Haar: Das ist Alexander Puschkin. Tolstoj beutelt den Kopf, entschließt sich zur Vernunft und erkundigt sich streng, was der junge Mann hier zu suchen habe.

Puschkin lacht, lacht immer heller. „Ja, Lew Nikolajewitsch, ich bin's“, sagt er schließlich, schlendert zum Schreibtisch, beugt sich vor und wirft einen Geisterblick aufs Manuskript.

„Sewastopol, hm?“, fragt er mit nur halb echter Langeweile.

Tolstoj wirft sich ins Gefecht. Redet von Armen, von Beinen, die körperlos auf dem Schlachtfeld liegen wie totes Holz.

„Lew Nikolajewitsch“, wedelt Puschkin mit seinen Armen, die nicht echt sind, aber so wirken (Wunder der Tinte?), „denken Sie doch an . . . mich. An den Dezemberaufstand 1825. Gegen die Allmacht des Zaren. Wann hat das alles angefangen?“

„Mit . . . Napoleon?“, fragt Tolstoj vorsichtig. Napoleon, der Erzfeind, 1812, das brennende Moskau – aber auch die Speerspitze einer Revolution, die einen König vom Thron gefegt hat. Daher wehte die Inspiration der Dekabristen, die in Sibirien endeten.

„Ja!“ Puschkins materienlose Faust donnert auf Tolstojs Schreibtisch.

„Achtzehnhundertfünf!“, hört Tolstoj noch Puschkins ersterbende Stimme. Und ist allein in seinem Zimmer.

Achtzehnhundertfünf. Das Jahr der Niederlage bei Austerlitz. Fünfzehntausend Tote. Austerlitz hat ohne ihn stattgefunden.

Aber die jungen Männer. Die zukünftigen Helden. Das war derselbe Typus. Auch das, denkt er, ist Krieg. Die Heldensucht ist den adeligen Burschen mit der Mutter-, nein, der Ammenmilch eingepumpt worden unter den Goldkandelabern ihrer Kindheit. Die Größe ihrer Umgebung finden sie nicht in sich, sie ziehen aus und blicken sich um. Was wird ihnen entgegengeworfen? Vaterland und Zar.

Tolstoj lässt schreibend mit Leichtigkeit einen solchen Burschen erstehen, er kennt das Milieu. Nikolaj könnte so ein Bursche zum Beispiel heißen. Wie Tolstojs Vater.

Der, der nicht Nikolaj ist, taucht die Feder ins Tintenfass und schreibt:

Nikolaj (Name?) stand auf und begann, zwischen den Wachtfeuern auf- und abzugehen, in Gedanken daran versunken, was für ein Glück es wäre zu sterben – einfach vor den Augen des Herrschers.

Puff!

Hat Puschkin etwas vergessen? Wollte er ein Souvenir?

Aber da lehnt ein anderer am Fenster. Schwarzer Gehrock, schulterlanges Haar. Tolstoj kneift die Augen zusammen: Sieht er den Apfelbaum im Garten durch den Rücken dieses Herrn hindurchschimmern?

Aber da wendet sich der Herr, und als Tolstoj die Nase sieht, begrüßt er ihn: „Nikolaj Wassiljewitsch . . . willkommen. Gerade eben war . . . war Puschkin da.“

„Weiß ich“, sagt Gogol und niest.

„Gesundheit“, rutscht Tolstoj heraus, er schämt sich sofort, schließlich hatte Gogol immer mehrere Krankheiten gleichzeitig.

„Gesundheit, ja! Das, Lew Nikolajewitsch, bin ich gekommen, Ihnen zu wünschen. Für Ihr Romanprojekt. Puschkin sagt, es geht um die Dekabristen. Und um Krieg.“

Tolstoj behält für sich, dass er eigentlich eine Novelle schreiben will. Gogol hustet. „Ich wünschte nur, dass Sie ein bisschen . . . wie soll ich sagen . . .“ Tolstoj fühlt, wie er blass um die Nase wird. Gogol gibt sich einen Ruck und führt aus, dass Tolstoj nicht auf die kleinen Leute vergessen soll. Auf die Leibeigenen, die Bauern, die Arbeiter.

„Und vielleicht“, sagt Gogol verlegen, „denken Sie auch an meine Heimat. Sie wissen schon. Kleinrussland . . . man sagt auch Ukraine dazu.“

„Ja, ja“, sagt Tolstoj, etwas genervt. Gogol könnte, wenn er sich informierte in seinem Himmelreich, wissen, dass bei Tolstoj nicht nur von Adeligen die Rede ist. Dass er sogar eine Schule für die Bauernkinder auf seinem Gut eingerichtet hat, wo weder für den Zaren gebetet noch die Knute aus dem Eck geholt wird. Weil es keine Knute gibt.

Aber er möchte Gogol keinesfalls in eine Diskussion verwickeln, die seinen Gesundheitszustand etwa verschlimmerte. „Natürlich“, sagt er also beflissen, „Sie können gewiss sein, jede Seele wird bei mir gut aufgehoben. Auch die kleine.“

Gogol lächelt, sagt umständlich, dass er jetzt leider weitermüsse. Sich ein wenig hinlegen. Und weg ist er.

Tolstoj seufzt.

Das Wichtigste, überlegt er, wird wohl das sein: Borodino. Das Endgemetzel. Vermutlich wird man am Neujahrstag 1900 zurückschauen und sagen: ja, Borodino, eine der größten Schlachten des 19. Jahrhunderts. Zumindest die Sechzigjährigen werden das sagen, denen der Großvater davon erzählt hat mit Schrecken in den Augen.

Tolstoj trommelt auf den Tisch.

Er wird eine Menge Adelige in diese Schlacht schicken. Damit die Leserschaft mit ihnen fühlt, wenn sie vom Pferd geschossen werden, wird er ihre Salons beschreiben, die unglücklichen Schwangerschaften ihrer unglücklichen Frauen, nicht zuletzt die eingebildeten Lieben von Geld devastierter junger Männer, als Kulisse. Für die Bauchschüsse. Den Flug von Kanonenkugeln. Die Toten. Bleiben die Massen, ohne die es keinen Krieg gibt. Die vielen, die ihren Pflug in der Erde stecken lassen, sich von der Wiege abwenden müssen. Die Schlacht von Borodino, grübelt Tolstoj, wird vorbei sein, und einer von den dickeren Herrschaften, die aus Schaulust hineingeraten sind, wird in Gefangenschaft landen. Ja, denkt er, so mach ich das. Einen lächerlichen Namen wird er haben, vielleicht Ohnenas, Besnosow (das kann er Gogol nicht antun!). Lieber Ohnohr: Besuchow. Dieser Besuchow wird in einer Ecke kauern, kaum verstehen, wo er ist. Dann wird es zuerst der Geruch sein, der ihn aufweckt: der Geruch von Schweiß. Hinter dieser Schweißschwade wird ein Mann sein. Ein kleiner.

Verkörperung alles Russischen, Guten und Runden, notiert Tolstoj. Wie spricht so ein Mann? In Sprüchen, Gebeten, in Fragen nach Mutter, Vater, Kindern. Er wird erzählen, wie er unter die Soldaten geraten ist . . . er wird bei der Waldarbeit auf den Nachbargrund geraten, erwischt, dem Gericht übergeben worden sein. Zum Soldatsein verurteilt. Der Mann wird ruhig und in einem Singsang von seiner Zufriedenheit erzählen, jawohl. Er wird beten, ein einfaches Gebet, draußen vor der Bude werden Schreie zu hören sein, der Widerschein von Feuer wird durch die Ritzen leuchten, und dieser Mann – warum ihn nicht Platon nennen, warum sollen immer nur die Studierten griechische Namen tragen? – wird in seiner großen Ruhe der Anker für den dicken Besuchow. Tolstoj schreibt. Verbindlichkeiten, Freundschaften, Liebschaften, wie Pierre sie verstand, hatte Platon überhaupt keine; aber er lebte liebevoll mit allen, mit denen ihn das Leben zusammenführte . . .

PUFF!

Es knallt, OHNOHR, denkt Tolstoj, sein Hirn stellt sich kurz tot, aber nein, es nimmt wahr, dass ein vollkommen fremder Mann Blätter und Tintenfass vom Tisch fegt.

Tolstoj springt auf, schreit, wie man das so tut: „Einbrecher!“, aber der Fremde lacht nur ein seltsames Höhö (Tolstojs Herz hämmert, das muss der Satan sein, wieso klingt er nach Kindergeburtstag?), bevor er sagt: „Machen Sie sich keine Mühe, Tolstoj, niemand hört Sie.“

Der Angesprochene hechtet zum Ofen, holt mit dem Schürhaken aus, er ist in Kriegen gewesen – holt aus und drischt durch den Fremden durch.

Der lacht wieder sein seltsames Lachen.

„Lassen Sie das“, sagt er, knallt Tolstojs Sessel an die Wand, holt eine Schere aus seiner Anzugjacke. Zieht wahllos Papiere aus Tolstojs Stapeln und schneidet Formen heraus, Schatten einer irren Architektur.

Tolstoj greift nach seinen Papieren und muss darum kämpfen, nicht zu weinen. Der Fremde sagt weiterschneidend: „Ich komme aus der Zukunft, mein Name ist Wladimir Putin, Sie kennen mich nicht, egal. Eines Tages werde ich der Präsident dieses Landes sein.“

„Präsident, dass ich nicht lache“, schnaubt Tolstoj, „ein Werkzeug des Teufels sind Sie!“

„Schauen Sie“, sagt dieser Putin, macht nun drei Schritte auf Tolstoj zu, zückt die Schere, macht sich ans Bartwerk und fährt fort, während Tolstoj an sich selbst herunterbaumelt, „ich komme aus der ersten Hälfte des 21. Jahrhunderts, Russland ist dem Kommunismus entkommen“ – „Waaaas?“, brüllt Tolstoj –, „ja, ja, ich führe Russland wieder zur alten Größe, ich führe es heim ins Reich, aber natürlich geht das nicht mit Ihrem Friedensgefasel, Pazifismus, Ihr beschissener Wahn von der Versöhnung, Sie sind eine Gefahr für dieses Land, und diese Gefahr werde ich jetzt –“

Da macht es derartig Puff, dass es ein Wunder ist, dass Jasnaja Poljana, das Tolstoj'sche Gut, heute noch steht, und herein stürmen Gestalten, die Tolstoj noch nie gesehen hat, das muss die wilde Horde sein, ein Getümmel aus bunten Stoffen, Schuhe mit Streifen und Sternchen, Hemden mit kurzen Ärmeln, ein Knäuel aus Damen und Herren, alles geht ruckzuck, unter Brüllen und Tintenspritzen.

Am Ende ist der rüde Fremde durch die geschlossene Verandatür verschwunden; alles, was bleibt, sind blaue Spuren auf dem Parkett. Und die wilde Horde.

Die wird von einem Moment auf den anderen stumm. Tinte klebt an den Sohlen.

Einer fragt in heiserem Flüstern: „Ist das . . . Krieg und Frieden?“ Tolstoj starrt erst ihn an, dann auf die Blätter vor ihm.

„Krieg und Frieden“, murmelt er in seinen Bart hinein, wo die Wörter sich versammeln.

Sie treten nacheinander vor. Die Herrschaften sind teils schon älter; sie sind höflich, wenn sie auch gekleidet sind wie im Zirkus. Sie nennen ihre Namen: Wladimir Sorokin. Swetlana Alexijewitsch. Dmitri Gluchowski. Eine Dame mit raspelkurzen Haaren nennt sich Ljudmila Ulitzkaja.

Sorokin sagt, „Krieg und Frieden“ sei sein Steinbruch.

Gluchowski sagt, ohne „Krieg und Frieden“ hätte er gar keine Kraft für seine Bücher. Und für Russland auch nicht.

Alexijewitsch wiederum erzählt Tolstoj mit belegter Stimme von der Zukunft. Von einem Krieg mit Panzern, mit Drohnen – sie erklärt, was das ist – und der Drohung, Atomwaffen einzusetzen (als sie schildert, was man sich darunter vorzustellen hat, muss Tolstoj nach dem Wasserglas greifen). Es sei ein Krieg zwischen Brüdern im Gange, sagt sie, zwischen zwei unabhängigen Staaten, der Ukraine und Russland; ein Krieg zwischen zwei Ideen, wie vollkommen oder unvollkommen sie auch gelebt würden, zwischen Demokratie auf der einen und Imperialismus auf der anderen Seite. „Und stellen Sie sich vor“, schließt sie, „an manchen Universitäten und Konzerthäusern werden keine russischen Künstler mehr gelesen oder gespielt. Sie eingeschlossen! Weil Russland der Aggressor ist.“

Ulitzkaja ist stehen geblieben und schaut auf Tolstoj hinunter. „Ich finde, dass der Epilog Ihres Buchs schrecklich ist“, sagt sie, „diese Hausmütterchennummer, der Sie die lebensfrohe Natascha Rostowa unterwerfen . . . Aber gut, Sie konnten nicht aus Ihrer Patriarchenhaut. Die Schilderung des Kriegs hingegen, ja, die . . . die haben Sie ganz ordentlich hingekriegt.“

„Es ist auf jeden Fall“, sagt Sorokin sanft, „ein großer, langer Roman, Lew Nikolajewitsch. Nicht bloß eine Novelle.“

Langsam, langsam löst sich die wilde Horde auf.

Auf dem Tisch liegt das angeschnittene, bespritzte Manuskript, ein paar Seiten.

Tolstoj steht da wie Lots Frau in der Bibel.

Langsam setzt er sich, zieht die Blätter heran. Lässt den Blick noch einmal über das Geschriebene gleiten. Wie hat dieser Sorokin gesagt? Ein Steinbruch? Und diese Ulitzkaja . . . er notiert sich den Namen, den sie genannt hat: Natascha Rostowa. Ein Epilog? Also kommt nach dem Krieg doch so etwas wie – Frieden, ein Ende, ein Weitermachen.

„Ohne Worte . . . ist alles nichts“, das hört Sofja ihn murmeln, als sie die Tür öffnet, um ihn zum Essen zu rufen. ■

Katharina Tiwald

Geboren 1979, studierte Sprachwissenschaft und Russisch in Wien, St. Petersburg und Glasgow. Arbeitet als freie Schriftstellerin und – in Teilzeit und mit Unterbrechungen – seit 2012 als Lehrerin. 2021 erschien der Roman „Mit Elfriede durch die Hölle“ (Milena), 2022 wurde ihr Stück „Bachmann in Leningrad“ im Grazer Theater im Keller uraufgeführt. (Foto: Dessislaw Pajakoff)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.05.2023)

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