Literatur

Keiner liebt zum ersten Mal

J. M. Coetzees in kurze Kapitel gegliederter Roman erzählt von einer einseitigen Liebe.
J. M. Coetzees in kurze Kapitel gegliederter Roman erzählt von einer einseitigen Liebe.Imago
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J. M. Coetzees irritierender Roman „Der Pole“ erzählt von einer höchst einseitigen Liebe, der mit psychologischen Erklärungen nicht beizukommen ist. Eine kunstvoll gebaute Geschichte, die Anleihen in der Kunst- und Literaturgeschichte macht.

Das Werk des Nobelpreisträgers J. M. Coetzee zeichnet sich nicht durch emotionalen Überschwang aus. Nüchternheit prägt seine Prosa, und wenn er sich mit nun über 80 Jahren daranmacht, eine Liebesgeschichte zu erzählen, wirkt es so, als wolle er sein eigenes Schreiben noch einmal auf den Prüfstand stellen.

Ja, es geht in diesem schmalen Roman, „Der Pole“, um die Liebe, genauer: um die heimliche Affäre eines Paares, das auf den ersten Blick keinerlei Gemeinsamkeiten aufweist. Im Barcelona des Jahres 2015 lernen sich die beiden Protagonisten kennen: der 72-jährige polnische Pianist Witold Walczykiewicz, ein geschiedener Einzelgänger, der durch unkonventionelle Chopin-Einspielungen ein gewisses Ansehen erlangt hat, und die ein knappes Vierteljahrhundert jüngere Beatriz, eine kunstbeflissene Society Lady, die mit Gleichgesinnten Kulturevents organisiert.

Witold wird für ein Gastspiel eingeladen. Danach setzt man sich, wie es sich gehört, zu Tisch, plaudert über dies und jenes, ohne dass der silbermähnige Pianist bei Beatrix einen bleibenden Eindruck hinterließe. Im Gegenteil, sie stört sich an seinen schlechten Zähnen, an seinen viel zu „unromantischen“ Chopin-Interpretationen und an seinem dürftigen Englisch, das eine tiefschürfende Unterhaltung kaum möglich macht.

Witold freilich lässt sich davon nicht abschrecken. Er bestürmt die verheiratete Beatriz mit Briefen, lädt sie kurzerhand zu einer Reise nach Brasilien ein und lässt keinen Zweifel daran, in ihr die Frau seines Lebens gefunden zu haben – eine neu entfachte Leidenschaft, die keinen verbalen Aufwand scheut: „Ich kann nur sagen, seit ich Sie getroffen habe, sind meine Gedanken voll von Ihnen, von Ihrem Bild. Ich reise von einer Stadt zur anderen und wieder anderen, das ist mein Beruf, aber Sie sind immer bei mir. Sie beschützen mich. Ich spüre Frieden in mir. Ich sage zu mir, ich muss sie finden, sie ist mein Schicksal.“

Beatriz kann mit diesen Beteuerungen wenig anfangen. Ja, sie fühlt sich abgestoßen, und als sie versucht, sich über ihre eigenen Gefühle klar zu werden, findet sie eindeutige Worte: „Wenn sie ihn nicht liebt, welchen Namen hat dann das Gefühl, das sie für ihn hegt, das Gefühl, das sie auf diesen fragwürdigen Pfad geführt hat? Wenn sie sich festlegen müsste, würde sie es Mitleid nennen. Er hat sich in sie verliebt, und sie hatte Mitleid mit ihm.“

J. M. Coetzees in kurze Kapitel gegliederter Roman erzählt von einer höchst einseitigen Liebe, der mit psychologischen Erklärungen nicht beizukommen ist. Denn so sehr die nicht zu Exaltationen neigende Beatriz Witolds vollmundige Schwüre verhöhnt, so deutlich legt seine schrankenlose Liebe Leerstellen in ihrem Leben bloß, zeigt ihr „vermisste Dinge“ auf. Und so geschieht das scheinbar Widersinnige, das irgendwann Unvermeidliche: Beatriz besucht ihn in Girona, wo er, um ihr nah zu sein, am Konservatorium Unterricht erteilt, und sie lädt ihn gegen alle Vernunft für eine Woche in ihr Landhaus auf Mallorca ein. Ihr Mann weiß Bescheid, ohne das Tun seiner Frau zu verstehen.

Schritt für Schritt kommen einander die beiden näher, obschon sich Beatriz vorgaukelt, sich in seiner Gegenwart zu langweilen und von seinen Avancen peinlich berührt zu sein. Als sie ihm vorschlägt, sein Haar zu schneiden, reicht dieser körperliche Kontakt aus, um den Bann zu brechen. Das „Äußerste“ geschieht: Sie gewährt ihrem Möchtegernliebhaber Zutritt zu ihrem Schlafzimmer und gibt seinem Beischlafbegehren leidenschaftslos nach. „Sie hilft ihm, so gut sie kann, beim Liebesakt“, heißt es da knapp, und nichts fürchtet sie mehr, als dass das Herz des Liebestollen an ihrer Seite den Anstrengungen nicht gewachsen ist: „Das Letzte, was sie sich wünscht, ist ein Leichnam in ihrem Bett.“

Die vier mallorquinischen Nächte finden keine Fortsetzung. Ein Happy End wird es nicht geben. Unmissverständlich gibt Beatriz ihrem alternden Lover den Laufpass und legt sich für das Geschehene ein passendes Narrativ zurecht: „In den Tagen, bevor sie nach Barcelona zurückfliegt, hat sie Zeit, ihre Erinnerungen neu zu ordnen und sich auf eine Geschichte festzulegen, die sie sich selbst erzählen wird, die Geschichte, die ihre Geschichte werden wird. Sie had a fling, entscheidet sie (sie benutzt den englischen Ausdruck). Sie hatte eine kurze Affäre mit einem Musiker auf Besuch, die ganz nett war, aber jetzt vorbei ist.“

Erst ein paar Jahre später wird sie wieder von Witold hören, als sie von seinem Tod erfährt. Ein Vermächtnis habe er ihr hinterlassen, und als sich Beatriz deswegen nach Warschau in seine ärmliche Wohnung aufmacht, nimmt der Roman am Ende eine neuerliche Wendung, die den Toten in einem anderen Licht zeigt.

„Der Pole“ ist ein irritierender Roman, sicher kein „Meisterwerk“, wie der Verlag glauben machen will, aber doch eine kunstvoll gebaute Geschichte, die Anleihen in der Kunst- und Literaturgeschichte macht. Wo eine Geliebte Beatriz heißt, ist Dantes rätselhafte Jugendliebe Beatrice nicht fern, und wo man sich auf Mallorca liebt, darf die Affäre nicht unerwähnt bleiben, die George Sand und Frédéric Chopin 1838 auf die Insel führte. Damit nicht genug: Auch Orpheus, der Harfenspieler, dem alle ihr Ohr schenken, findet in diesem Anspielungsreigen ein Plätzchen – fast zu viel des Guten.

Keiner liebt, so die Botschaft, zum ersten Mal; jede Liebe baut auf den vorangegangenen Lieben auf, kein Stück Literatur steht für sich allein. J. M. Coetzee lässt sich davon nicht beeindrucken und wagt es, ein weiteres Mal von einer großen (und tragischen) Leidenschaft zu erzählen.

Man kann sich, wenn man Chopin spielt, jede übertriebene Romantik verkneifen, doch was in dessen Musik an Zeitlosem schlummert, bricht sich immer wieder Bahn: „Warum er wichtig ist? Weil er uns etwas über uns mitteilt. Über unsere Sehnsüchte. Die uns manchmal nicht bewusst sind. Das ist meine Meinung. Manchmal sehnen wir uns nach etwas, was wir nicht haben können. Was für uns unerreichbar ist.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.05.2023)

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