Mein Dienstag

Fast alle Vöglein sind noch da – aber wie lang noch?

Seit Kurzem habe ich eine neue Passion: frühmorgens oder abends in der Dämmerung mit der Vogelstimmen-App am offenen Fenster lauschen. Aktuelle Nummer eins der Zwitscherhitliste ist die Mönchsgrasmücke: kein eindrucksvoll bunter gefiederter Vogel, sondern klein, grau und schwarzbekopft, aber vielleicht singt er gerade darum so fröhlich und glockenhell?

Die Elster im eleganten schwarz-weiß-metallicblauen Rock hat große Sangeskunst nicht nötig, sie keckert meist eher hölzern vor sich hin wie einer der Raptoren aus „Jurassic Park“. Nach den ersten Tagen dieser amateurhaften, technologisch unterstützten Vogelbelauschung ein mutmachendes Fazit: Die Artenvielfalt schmilzt unter unserem rücksichtslosen Zutun rasant, doch noch immer kann man in einer europäischen Stadt fast ein Dutzend verschiedener Singvögel hören, sobald ein bisschen Grün in der Nähe ist.

Und während ich am Pfingstwochenende so in den Abendhimmel starrte, links die Mondsichel, rechts die Venus langsam dahingleitend, fragte ich mich: Wo sind wir binnen so kurzer Zeit so falsch abgebogen? Vor vier Jahren noch schien es, dass der Schutz der Natur, der Tiere, der Pflanzen, des Klimas, kurzum: unserer Welt und damit auch unseres eigenes Fortbestehens klar mehrheitsfähig war.

Die Europäische Kommission kündigte ihren Grünen Deal an, alle Regierungen in der EU unterschrieben nolens, volens das Ziel, bis Mitte des Jahrhunderts netto nicht mehr zum Klimawandel beizutragen. Gewiss dachte ich mir damals: Nu, das wird noch ein steiler Berggang, was schlüssigerweise aus der Dekarbonisierung unserer Lebensweise binnen drei Jahrzehnten an Änderungen unseres Lebensalltags auf uns zukommt. Aber die Notwendigkeit dessen hielt ich für allgemein einleuchtend.

Heute ist der Klimawandel evidenter als 2019. Doch der politische Elan und Mut zum Unbequemen sind flächendeckend weg. Man möchte bisweilen eine Mönchsgrasmücke sein . . .

E-Mails an: oliver.grimm@diepresse.com

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