Gastkommentar

Unbehagen im Rechtsstaat

(c) Peter Kufner
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Verwaltung. Jahrelang wurden in Österreich Reformen verschoben und Entscheidungen verschleppt. Das rächt sich jetzt in vielen Bereichen.

DER AUTOR:

Dr. Peter Hilpold (* 1965) studierte Rechtswissenschaften, Volkswirtschaftslehre und Betriebswirtschaftslehre. Seit 2001 ist er Professor für Völker-, Europa- und Vergleichendes Öffentliches Recht an der Uni Innsbruck und lehrte auch an anderen Universitäten. Er ist Autor von über 300 wissenschaftlichen Publikationen.

Unbehagen macht sich breit, nicht nur in der Politik, sondern auch in den Feldern Recht, Justiz und Wissenschaft. Den Hintergrund bilden Jahre, mitunter Jahrzehnte aufgeschobener Reformen; eine Unterlassung, die nun ihre abträglichen Wirkungen für das ganze Land überdeutlich vor Augen führt.

Da wäre die Digital-Uni Linz mit ihrem verunglückten Gründungskonvent. Die Vorwürfe, die aus diesem Gremium laut wurden, wiegen schwer. Ob diese in der Substanz zutreffen, kann von außen nicht beurteilt werden. Sicher ist, dass Anschuldigungen dieser Art einer rechtsstaatskonformen Überprüfung bedürfen. Die verlautbarten Ergebnisse des ministeriellen Aufsichtsbeschwerdeverfahrens müssen Verwunderung auslösen – und noch mehr, dass diese Zweifel nun über eine Prüfung durch die Finanzprokuratur (den Anwalt der Republik, auch des Ministeriums!) geprüft werden sollen. Als unabhängige Prüfinstanz stünde der Rechnungshof parat: Der Herr Wissenschaftsminister hätte die Befugnis, eine solche Prüfung zu veranlassen. Warum ist das nicht geschehen?

An der Universität Salzburg wird über eine § 99-Berufung eines OGH-Richters diskutiert: Das dritte Mal in Folge – obwohl die betreffende Bestimmung in § 99 keine Verlängerung vorsieht. Welche Bedeutung hat hier der verfassungsrechtliche Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung?

In Tirol wird ein hoher Landesbeamter Präsident des Verwaltungsgerichts; andere Bewerber:innen aus dem Justizbereich kündigen rechtliche Schritte an – doch gibt es in Österreich, einzigartig in der EU, keine diesbezüglichen Rechtsbehelfe.

In Wien lehnt die Verteidigungsministerin ein ukrainisches Hilfsersuchen zur Minenräumung unter Hinweis auf die österreichische Neutralität ab. Eine überzeugende rechtliche Begründung für diese Weigerung unterbleibt, der Bundespräsident protestiert zu Recht.

Ebenfalls in Wien unterbleibt die Bestellung der bereits durch ein fachkundiges Gremium bestimmten Präsidentin des Bundesverwaltungsgericht (BVwG), wobei zumindest in den Medien diese Entscheidung in Verbindung gebracht wird mit angeblich fehlender Pakttreue des Koalitionspartners in Bezug auf Sideletter-Absprachen.

Empörung, vielfach aber auch schiere Desillusionierung in der Bevölkerung sind festzustellen. Die Politik mag dazu neigen, die Vorwürfe entweder zu ignorieren oder von einem Sammelsurium von Vorfällen auszugehen, die zufällig zeitlich gehäuft die Republik im Zustand einer tiefen Krise treffen, aber sonst keinen Zusammenhang aufweisen. Tatsächlich liegen die Zusammenhänge aber auf der Hand. Was die Besetzungen bei den Spitzenpositionen in Verwaltung und Justiz anbelangt, liegt ein Hauptproblem im Umstand, dass die durch die Chat-Affäre publik gewordene Sideletter-Problematik nie wirklich aufgearbeitet worden ist. Hier wäre ein konsequenter Durchgriff erforderlich gewesen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in Guđmundur Andri Ástráđsson gegen Island, Urteil vom 12. März 2019, deutlich zum Ausdruck gebracht, dass solche Besetzungen den Rechtsstaat untergraben und damit inakzeptabel sind. Hier wären auf höchster Ebene entsprechende Maßnahmen zu setzen.

Klarheit schaffen wäre nötig

Klarheit zu schaffen wäre im „Wildwuchs“ der Sonderwege zur Professur, die § 99 nach Meinung einiger Universitäten zu eröffnen schien, dringend geboten. Laufend neu ausgeschriebene § 99-Professuren, die laut Gesetz gar nicht „verlängert“ werden dürften, „kompetitive Verfahren“ unter Ausschluss von Konkurrenz, „Praktikerprofessoren“ ohne Habilitation, die dann über andere Habilitierte urteilen: Das sind nur ein paar Blüten dieses absoluten einzigartigen österreichischen Systems. Aber auch die Auswahlverfahren für Richter würden durch mehr Transparenz profitieren. International üblich wäre dabei die Einbeziehung von Rechtsprofessoren in den Auswahlkommissionen.

Absolut unerlässlich ist die Schaffung eines geeigneten Rechtsschutzes, sowohl im Justiz- als auch im Universitätsbereich. Während dies für den Universitätsbereich auf der Grundlage der Bestimmungen zur Arbeitnehmerfreizügigkeit in Verbindung mit Art. 47 der Grundrechte-Charta zwingend geboten ist, ist ein solcher Rechtsschutz auch im Bereich der Justiz auf der Grundlage des Rechtsstaatlichkeitsprinzips erforderlich. Die gegenwärtig anhängigen Beschwerden sind auf Grundlage des österreichischen nationalen Rechts wohl aussichtslos: Aber das österreichische Recht ist unionsrechtskonform auszulegen und erforderlichenfalls sind diese Fragen dem EuGH vorzulegen!

Zu guter Letzt noch ein paar Worte zur aktuellen Neutralitätsdiskussion in Österreich. Der Autor dieser Zeilen ist letzthin eingeladen worden, an der einschlägigen Schweizer Diskussion teilzunehmen. Diese Diskussion wird in der Schweiz sehr hart geführt, aber gleichzeitig auf sehr hohem wissenschaftlichem Niveau, unter couragierter Beteiligung von Schweizer Experten – durchwegs Wissenschaftler von internationalem Rang.

Diskutieren über Neutralität

Genau eine solche umfassende wissenschaftliche und politische Diskussion muss man gegenwärtig in Österreich (anders als in der Vergangenheit!) vermissen. Dass eine solche Beschäftigung mit der Neutralität nicht einfach ist und politisch in einem ersten Moment wenig bringt, mag zutreffen. Man möge aber erneut auf die Schweiz blicken: Dort scheint nun ein Stimmungswandel in der Bevölkerung einzutreten. Es ist eine Bereitschaft festzustellen, offen über die Zukunft der Neutralität zu sprechen. Eine konsequente wissenschaftliche Diskussion hat dazu sicher einen gewichtigen Beitrag geleistet.

Wären wir in Österreich bereit, den Mut für Vergleichbares aufzubringen? Ist die Kraft dafür vorhanden? Oder braucht es tatsächlich den Bundespräsidenten, der hier eingreifen muss?

Über die lokalen Konflikte scheint der Blick für das größere Ganze verloren zu gehen. Das kann und das soll nicht mit „Universitätsautonomie“ gemeint sein. Das UG kann nicht nach Belieben ausgelegt werden, ohne wirksame Kontrolle über grundlegende rechtsstaatliche und unionsrechtliche Grundsätze. Letztlich müssen wir uns – gerade in einem kleinen Staat wie Österreich – der Interdependenzen bewusst werden.

Schweigen der Wissenschaft

Gibt es vielleicht einen Zusammenhang zwischen universitären Sonderwegen zur Professur, Ad-personam-Berufungen von Leuten mit minimalem wissenschaftlichem Impact, „kompetitiven Verfahren“ unter Ausschluss von Konkurrenz, „Praktikerprofessoren“, die über Wissenschaftler urteilen, dem Ausschluss eines an und für sich unionsrechtlich gebotenen Zugangs zu einem Gericht bei Besetzungsverfahren, der Nichtanwendung von Unionsrecht und der Propagierung von Völkerrechtsnormen, die völkerrechtlich nicht mehr zu begründen sind, bei gleichzeitigem weitgehendem Schweigen der Wissenschaft?

E-Mails an:debatte@diepresse.com

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.06.2023)

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