Gastkommentar

Es führt kein Weg an neuen Fiskalregeln vorbei

Staatsschulden. Wie kommt der Euro-Raum aus der Krise? Die EZB könnte etwa an niedrigverzinste Gemeinschaftsanleihen denken.

Der Autor

Dr. Wilfried Stadler (*1951 in Salzburg) ist Ökonom, Publizist und war Mitherausgeber der Wochenzeitung „Die Furche“.

Eine Geldunion, die nicht zugleich Fiskalunion ist: Damit dieses währungspolitisch einzigartige Großexperiment gelingen kann, wurden zur Geburtsstunde des Euro zu Anfang der 1990er-Jahre im Vertrag von Maastricht verbindliche Schuldenregeln beschlossen. Die beiden wichtigsten – eine jährliche Nettoneuverschuldung von zuhöchst drei Prozent und eine Staatsschuldenquote von nicht mehr als sechzig Prozent – gelten seither als unverrückbar, obwohl sie in der Praxis kaum mehr anwendbar sind.

Nicht zufällig hat sich der auf dem Maastricht-Vertrag basierende Stabilitäts- und Wachstumspakt im Lauf der Jahre zu einem unübersichtlichen Konvolut von nahezu 300 Seiten ausgewachsen. Mit dem Coronajahr 2020 wurde er vorläufig – weil faktisch nicht einhaltbar – außer Kraft gesetzt. Ab 2024 soll er nun in überarbeiteter Form wieder gelten – vorausgesetzt, dass unvorhersehbare Turbulenzen nicht neuerlich eine Aussetzung erzwingen. Wie allfällige Regelkorrekturen aussehen werden, ist derzeit noch weitgehend offen

Ihren Ursprung hat die fiskalische Regelkrise in der Finanzkrise 2008, aus der in den Folgejahren eine europäische Staatsschuldenkrise wurde. Erst das „Whatever it takes“-Versprechen des damaligen EZB-Präsidenten, Mario Draghi, aus dem Sommer 2012 verhinderte damals im Zusammenspiel mit dem neu eingerichteten permanenten Schutzschirm ESM ein Auseinanderbrechen der Eurozone.

Anleihe-Ankaufsprogramm

Als die Anleiherenditen der Eurostaaten mit Ausbruch der Pandemie neuerlich auseinanderstrebten, startete die EZB zur Vermeidung einer neuerlichen Staatsschuldenkrise unverzüglich ein großvolumiges Anleihe-Ankaufsprogramm (PEPP) mit einem Gesamtvolumen von 1,85 Billionen Euro. Schon davor hatte die EZB mit massiven Anleihekäufen und einer Politik extrem niedriger Zinsen einen Kurs eingeschlagen, der neben dem Streben nach Wachstum auch mit dem – aus heutiger Sicht paradox erscheinenden – Ziel begründet wurde, eine Inflation von knapp unter zwei Prozent erreichen zu wollen. Dass mit all diesen „unkonventionellen“ Maßnahmen vor allem der Euro-Zusammenhalt sichergestellt werden sollte, kam im damaligen offiziellen Wording nicht vor und wird bis heute nur allzu gern verdrängt.

Ein simples Zurück gibt's nicht

Gerade als sich die Folgen der durch die Pandemie gestörten Lieferketten abzumildern begannen, lieferte der Ukraine-Krieg einen nächsten Anlass für unvorhergesehene Budgetüberschreitungen in den meisten Eurostaaten. Zudem löste die drastische Verteuerung der Energie einen Inflationsschub aus, der sich durch die neue geopolitische Gemengelage weniger rasch rückbildet als zunächst erhofft.

Nach all diesen unvorhersehbaren Entwicklungen liegt aktuell die Durchschnittsverschuldung in der Eurozone bei über 90 Prozent, in einzelnen Staaten wie Italien (144) oder Frankreich (112) weit darüber. Auch Österreich überschreitet mit 84 Prozent die Maastricht-Grenze deutlich. Allein die Budgetbelastungen aus den Coronamaßnahmen lagen hierzulande per Ende 2022 bei über 47 Milliarden Euro.

An die Chance, von diesem Berg an Verpflichtungen durch ein simples Zurück zu den Maastricht-Regeln wieder herunterzukommen, glaubt nur, wer die Augen vor der Realität verschließt. Gefragt sind deshalb Alternativen zum derzeit politisch sich hochschaukelnden Entweder-oder um die Aufrechterhaltung oder Aufgabe starrer, vor drei Jahrzehnten entstandener Regeln. Erste Konzepte der Kommission zielen auf länderspezifische Vereinbarungen mit längeren Zeiträumen für den Schuldenabbau und Berücksichtigung besonderer, zukunftsorientierter Investitionserfordernisse. Auch eine Erhöhung der Schuldenquote steht zumindest informell zur Diskussion.

Angesichts der engen Verflochtenheit von fiskal- und geldpolitischen Strategien zum nachhaltigen Zusammenhalt des Euro wird dies jedoch nicht ausreichen, spielt doch die EZB eine unfreiwillige, so doch unverzichtbare Schlüsselrolle im Staatsschuldenmanagement des Euroraums. Gerade weil die bisherigen Anleihenkaufprogramme nicht mehr erweiterbar sind, ohne in eine faktische Gemeinschaftsverschuldung zu kippen, bedarf es hier gesonderter Überlegungen.

Eine mögliche Lösung könnte darin liegen, jenen Teil der Staatsverschuldung von Euro-Mitgliedstaaten, der auf die seit 2008 dicht aufeinanderfolgenden Schuldenschocks zurückzuführen ist und daher nicht im Zusammenhang mit der unmittelbaren Haushaltsdisziplin steht, seitens der EZB über langfristige, niedrigverzinste Gemeinschaftsanleihen mit langen Laufzeiten zu refinanzieren. Die anteiligen Quoten der krisenbedingten Sonderverschuldung der Eurostaaten würden den im Stabilitätspakt kontrollierten Schuldenquoten in der Folge nicht mehr zugerechnet.

Eine solche Neutralisierung von durch externe systemische Schocks entstandenen Sonderschulden in von der Notenbank langfristig refinanzierten Sondertranchen böte die Chance auf einen sachgerechten Ausweg aus dem Streit um ein striktes Festhalten an den ursprünglichen Maastricht-Regeln. Die unverzichtbare budgetäre Eigenverantwortlichkeit entlang der neu fixierten Grenzwerte könnte darauf aufbauend wieder glaubwürdig gelebt werden.

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.06.2023)

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