Interview

Anthony McCarten: „Unser Denken gehört uns nicht mehr“

Kann Kaitlyn, Hauptperson von „Going Zero“, 30 Tage unentdeckt bleiben? Im Buch testen ein Tech-Konzern und die CIA die totale Überwachung.
Kann Kaitlyn, Hauptperson von „Going Zero“, 30 Tage unentdeckt bleiben? Im Buch testen ein Tech-Konzern und die CIA die totale Überwachung. REUTERS
  • Drucken

Warum ihn Yoko Ono spiritistisch checken ließ und sein Überwachungsthriller „Going Zero“ keine Dystopie ist: Autor Anthony McCarten über KI, Manipulation und Churchill.

Einige der besten Filme der letzten Jahre basieren auf den Drehbüchern von Anthony McCarten, zum Teil hat er sie auch produziert: über Churchill („Die dunkelste Stunde“), Papst Benedikt und Franziskus („Die zwei Päpste“), Freddie Mercury („Bohemian Rhapsody“) oder Stephen Hawking („Die Entdeckung der Unendlichkeit“). Nun steht sein Roman „Going Zero“ auf den Bestsellerlisten. In ihm müssen zehn Personen jede für sich 30 Tage unentdeckt überleben: Der Tech-Konzern WorldShare und die CIA erproben ein neues Überwachungsprogramm. „Die Presse am Sonntag“ sprach mit dem in Hollywood, London und München lebenden Neuseeländer.

Wir unterhalten uns hier über Zoom, das ergibt schon wieder einige Daten über uns . . .

Anthony McCarten: Ach ja. Ich wünschte, ich hätte die Zeit meines Lebens wieder, in der ich Cookies deaktiviert habe. Allein für dieses Zoom-Gespräch hat mich das mehrere Minuten gekostet.

Frühere Überwachungsromane spielen in der Regel weit in der Zukunft, heutige, wie Ihrer, bezeichnenderweise fast im Heute. Dachten Sie an eine Jahreszahl?

Ich habe bei den Überwachungstechniken extra fünf Jahre vorausgedacht, damit das Buch, wenn es fertig ist, nicht schon wieder überholt ist, so schnell schreitet die Technik voran. Als ich 2016 diese Idee hatte, hätte das, was ich beschreibe, fast wie Orwell geklungen.

Wer hat Sie beraten?

Ich habe vor allem Aussagen von Experten und Online-Debatten studiert. Besonders hat mich dabei die Manipulation des menschlichen Denkens beschäftigt. Das führt zur Frage, wem eigentlich unser Denken gehört.

In „Going Zero“ spielt das kaum eine Rolle.

Die Prognose dessen, wie die zehn Gejagten denken werden, ist doch wichtiger Teil der Verfolgungsstrategie. Die so analog lebende Hauptperson Kaitlyn ist deshalb so schwer zu fassen, weil sie so wenig vorhersagbar ist. Kaitlyn repräsentiert eine Welt, in der das Private und unser Denken noch viel mehr uns gehörten.

In Überwachungsdystopien gibt es in der Regel keine funktionierende Öffentlichkeit mehr. „Going Zero“ hingegen geht davon aus, dass Medien und Senat den Plan von WorldShare und CIA stoppen werden, wenn sie alles darüber erfahren. Sie sind also gar nicht so pessimistisch?

Ich glaube tatsächlich, dass wir fähig zur Kontrolle sind, auch die Atomkraft haben wir eingegrenzt. Deshalb ist „Going Zero“ im Grunde keine Dystopie. Natürlich bieten die neuen Technologien unglaubliche Vorteile, aber geblendet von den neuen Möglichkeiten haben wir völlig freie Fahrt gewährt. Drogen und schädliche Lebensmittel begrenzen wir. Hier tun wir es nicht.

Hollywoods Drehbuchautoren streiken derzeit, Sie sind einer davon. Auch durch KI fühlen sie sich bedroht. Wie stehen Sie dazu?

Wir sind die erste Berufsgruppe, die hier handelt, darauf bin ich stolz. KI ist eine existenzielle Bedrohung für uns, wir wollen Antworten auf wichtige Fragen, bevor etwas entfesselt wird. Ich bin aber hoffnungsvoll. Vor einigen Wochen erst wurden große Tech-Unternehmer ins Weiße Haus gerufen. Das ist ein Drehmoment in der Geschichte.

Sie zeigen gern um das „Richtige“ ringende berühmte Personen. Mehrere Hauptdarstellerin Filmen nach Ihren Drehbüchern bekamen einen Oscar als beste Schauspieler. Haben Sie eine Erklärung dafür?

Vielleicht hat es etwas mit dem Intimen zu tun, das ich in berühmte Persönlichkeiten hineinlege, das scheint das Beste aus den Schauspielern herauszuholen. Bei „Die zwei Päpste“ hatten wir Riesenglück. Als Netflix den Film ankündigte, hatten wir zwei Fotos, von Anthony Hopkins und Jonathan Pryce, aber keiner hatte fix zugesagt. Dann bekamen wir beide, das ist extrem selten.

Churchill wirkt sehr menschlich, wenn er als neuer Premier in „Die dunkelste Stunde“ am Krieg gegen Hitler festhält, obwohl die Armee in Dünkirchen eingekesselt ist, die Position der Briten hoffnungslos erscheint. Aber verklären Sie ihn nicht auch ein bisschen?

Ich wollte einen schwächeren, zweifelnderen Churchill zeigen, als man ihn gewohnt ist. Ich entschied mich zu diesem Film, als ich entdeckte, dass es eine Periode in Churchills Leben gab, wo er zutiefst unsicher war. Diese Wochen im Jahr 1940 sind nicht nur „Die dunkelste Stunde“ in der britischen Geschichte, sondern auch für Churchill, weil er das Licht der Gewissheit nicht sieht.

Wir projizieren gern mit unserem Gegenwartswissen rückwirkend eine Klarheit in die Vergangenheit. Churchills Handeln aber musste unter den damaligen Bedingungen extrem unvernünftig wirken.

Natürlich, das einzig Rationale in dem Moment wäre gewesen, mit den Deutschen zu verhandeln! Churchills Position schien so irrational, so stur, dass man denken konnte, Englands Schicksal liegt in den Händen eines Wahnsinnigen! Damals wurde die Sprache zur Waffe. Über Churchill wurde einmal gesagt, er habe die englische Sprache mobilisiert und in den Kampf geschickt. Im Grunde ist das etwas, was auch wir Autoren versuchen.

Jetzt planen Sie einen Film mit und über Yoko Ono und ihre Zeit mit John Lennon. Wie haben Sie Yoko Ono dazu gebracht?

Ich bin nach New York geflogen und habe sie im Dakota-Gebäude getroffen, wo sie mit John Lennon wohnte und bis vor Kurzem immer noch wohnte. Sie glaubt sehr an das Reich des Spirituellen und hat mich, wie ich dann erfahren habe, vorher spiritistisch überprüfen lassen. Sie wollte auch eine Seance mit mir machen. Als wir zusammensaßen, hatte sie aber schon entschieden, dass sie mit mir arbeiten wollte. Da tranken wir also Tee in dem weißen Raum mit dem weißen Klavier, in dem Yoko Ono und John Lennon das Video zu „Imagine“ gedreht haben.

Wie haben Sie sie erlebt?

Als Person von tiefer Weisheit. Diese Seite kommt in Interviews oft nicht rüber, weil sie ihr Leben auch als Performancekunst behandelt, da kann sie etwas unernst wirken. Sie sorgt sich immer noch tief um den Weltfrieden. Und das braucht die Welt mehr denn je.

Steckbrief

Geb. 1961 in Neuseeland. Nach mehreren Romanen reüssiert er in Hollywood mit Biopic-Drehbüchern zu sehr erfolgreichen, teils auch von ihm produzierten Filmen:

2014 „The Theory of Everything“ über Stephen Hawking („Die Entdeckung der Unendlichkeit“, geschrieben und produziert von McCarten).

2017 „The Darkest Hour“ über die ersten Wochen von Churchills Amtszeit („Die dunkelste Stunde“, geschrieben und koproduziert von McCarten).

2018 „Bohemian Rhapsody“ über Freddie Mercury – der Film wird zum Sensationserfolg.

2019 „The Two Popes“ („Die zwei Päpste“, Drehbuch von McCarten): Der Film imaginiert mehrere Begegnungen zwischen Benedikt und Franziskus in Castel Gandolfo.

2022 „Whitney Houston: I Wanna Dance with Somebody“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.06.2023)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.