Neutralitätsdebatte

Neutralität und Aggression

Neben Österreich diskutiert auch die Schweiz intensiver denn je über ihre Neutralität. Die Kernfragen sind dieselben.

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Ralph Janik forscht an der Sigmund-Freud-Privatuniversität in Wien zu Völkerrecht und Menschenrechten. Zuletzt erschien: „Umwelt und Strafe“ (Edition Konturen).

Zwei Länder, ein Konzept: Das Wort Schweiz gilt weltweit als Synonym für Neutralität, in Österreich verweist man gern auf die Vorbildfunktion der Eidgenossenschaft. Völkerrechtlich und politisch folgt daraus ein halbes Pingpong-Spiel, was die einen machen, können die anderen (oder eben nicht) – und umgekehrt.

Die Gemeinsamkeiten sind offensichtlich: Beide Länder beherbergen zahlreiche internationale Organisationen; sie haben Städte als Namensgeber für wichtige Abkommen, von den Genfer Konventionen bis zum Wiener Übereinkommen zum Schutz der Ozonschicht. Und beide üben sich bei Kriegen in Zurückhaltung: keine Mitgliedschaft bei der Nato, keine fremden Truppen auf dem eigenen Staatsgebiet, keine Waffenlieferungen.

Auch die Unterschiede sind bekannt: Die Schweiz ist erst 2002 der UNO beigetreten, Österreich bereits 1955, 40 Jahre später folgte die Aufnahme in die EU. Und doch ähneln sich die Diskussionen, geht es im Kern doch stets darum, ob Neutralität faktisch nicht auf Unterstützung für Aggressoren hinausläuft. Umso mehr, wenn diese militärisch wesentlich stärker sind.

Das ist keine neue Frage, im Gegenteil: Hans Kelsen, der Architekt der österreichischen Bundesverfassung (mit der später eingeführten Neutralität hatte er nichts mehr zu tun), brachte es 1950 in seinem Kommentar zur UN-Charta auf den Punkt: Kollektive Sicherheit auf Basis des Gewaltverbots widerspricht der Neutralität, sie wird dadurch ausgehebelt.

Neutralität adaptiert

So haben die Schweiz und Österreich Anfang der 1990er-Jahre – Anlassfall war der irakische Angriff auf Kuwait – ihre Neutralität adaptiert: Wenn der Sicherheitsrat militärische Mittel autorisiert, liegt kein „Krieg“ im Sinne des Neutralitätsrechts vor. Damit ist in solchen Fällen passive wie auch aktive Unterstützung möglich, von Überfluggenehmigungen bis (theoretisch!) hin zur Entsendung von Soldaten.

Nur: Derartige Beschlüsse des UN-Sicherheitsrats sind die Ausnahme, nicht die Regel. Sobald eine Vetomacht ihre Interessen gefährdet sieht, wird echte Zusammenarbeit unmöglich. Damit bleibt im Regelfall nur noch das Selbstverteidigungsrecht als die häufigste Begründung für Gewaltanwendung. Selbst Russland hat sich im Februar 2022 darauf berufen. Dieses Argument ist freilich absurd und wurde dementsprechend von einer klaren Mehrheit der UN-Generalversammlung zurückgewiesen. Die Ukraine hat das Recht auf Selbstverteidigung, nicht Russland. Daran gibt es keinen seriösen Zweifel.

Allein das traditionelle Neutralitätsrecht kennt derlei Unterscheidungen nicht. Es stammt aus einer Zeit, als der Krieg allgemein als „Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ (Clausewitz) akzeptiert war. Europas Staaten fühlten sich permanent bedroht: Frei nach Hobbes war „der Staat dem Staat ein Wolf“ – und die Schweiz war mit ihrer Neutralität gewissermaßen eine wolfsfreie Zone.

Schweiz als „wolfsfreie Zone“

Nach den zwei Weltkriegen hat sich das Völkerrecht maßgeblich geändert, konkret mit dem Antikriegspakt 1928 und dem allgemeinen Gewaltverbot der Satzung der Vereinten Nationen aus dem Jahr 1945. Krieg und sonstige militärische Mittel sind heute geächtet. Das hat auch auf neutrale Länder Auswirkungen. Das alte Denkmuster von bewaffneten Streithähnen, die sich eben politisch nicht einigen konnten, gilt heute nicht mehr. Erst recht nicht, wenn der Aggressor im Sicherheitsrat sitzt und jegliche Resolution gegen sich unterbinden kann.

Ganz verschwunden ist die Neutralität nicht, im Gegenteil. Kaum ein Politiker und schon gar nicht die Bevölkerungen beider Länder wollen an ihr rütteln. Viele dürften sich mehr Neutralität wünschen, also eine solche, die über ihren militärischen Kern hinausgeht: keine rhetorischen Zurückweisungen des russischen Vorgehens, keine Teilnahme an Sanktionen. „Neutralismus“, um es mit dem ehemaligen österreichischen Kanzler Bruno Kreisky zu sagen (der sich gegen ebensolchen aussprach).

Interesse am Frieden

Nur: Das geht sich heute einfach nicht (mehr) aus. Die Aggression ist eines der schwerwiegendsten Verbrechen des modernen Völkerrechts und obendrein die traurige Grundbedingung für viele weitere: ohne Krieg keine Kriegsverbrechen. Sowohl Österreich als auch die Schweiz haben ein essenzielles Interesse an der Wahrung des Friedens und der Aufrechterhaltung des Völkerrechts. Allein deswegen trägt man die EU-Sanktionen mit und leistet humanitäre Unterstützung.

Wenn das reichen würde, gäbe es die Diskussionen im In- und Ausland aber nicht, man denke an die jüngst diskutierte Frage, wie Österreich die Ukraine bei der Entminung unterstützen kann. Anlassbezogen wird man bisweilen Lösungen finden. In Österreich hat man sich darauf geeinigt, die Entminung durch Drittparteien stärker finanziell zu unterstützen. Neutralität-Ablasshandel sozusagen.

Die radikale Gegenposition muss indes nicht darauf hinauslaufen, die Neutralität vollends aufzugeben. Vielmehr geht es darum, was sie in Zeiten des Kriegs- und Gewaltverbots bedeuten soll. Dabei könnte ein altes Konzept aus der Schublade geholt werden: „qualifizierte Neutralität“, also eine solche, die nicht zur Anwendung kommt, wenn klar ist, wer den Krieg begonnen hat.

Ein Gedanke, der auf den Zweiten Weltkrieg und die damaligen Debatten in den USA zurückgeht. Gab es damals doch viele Stimmen, die sich nicht ein weiteres Mal in Europa einmischen wollten. Es setzte sich jedoch die Ansicht durch, dass es „im Angesicht des Bösen“ keine Neutralität geben kann. Man darf, ja muss sich fragen, ob das heute nicht auch gilt.Gastkommentare und Beiträge von externen Autoren müssen nicht der Meinung der Redaktion entsprechen.

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