Erdoğans Partei AKP könnte Vorbildwirkung haben. Oft wird sie als Beispiel einer Versöhnung von Islam und Demokratie genannt. Jedoch es besteht auch die Gefahr, dass umgekehrt die Türkei islamistischer wird.
Istanbul. Die Türkei hat Hochkonjunktur in diesen Tagen. Genauer gesagt die türkische Regierungspartei, die islamisch-konservative AKP. Jetzt, da angesichts der Umbrüche in Tunesien und Ägypten eine Stärkung des politischen Islam in diesen Ländern bevorstehen dürfte, wird die AKP oft als Beispiel einer Versöhnung von Islam und Demokratie genannt.
Staat und Gesellschaft der Türkei werden als ein Modell für den Nahen Osten genannt, das die wankenden arabischen Regime ablösen könnte, ohne dass die Region allzu islamistisch würde. Das Ansehen, das sich der türkische Regierungschef Recep Tayyip Erdoğan nicht zuletzt durch seine scharfe Kritik an Israel auf der „arabischen Straße“ erworben hat, könnte die Akzeptanz für das türkische Modell erhöhen.
Doch zunächst befeuert in der umgekehrten Richtung die Aussicht auf einen Siegeszug der Muslimbrüder am Nil Islamisten in der Türkei, wobei die Grenze zur AKP nicht immer klar ist. Gestern haben diese islamistischen Kreise, die auch bei der Gaza-Hilfsflottille an vorderster Front gewesen sind, zu einer Kundgebung nach dem Freitagsgebet auf.
Zwei Männer hängen ein großes Spruchband an der Moschee auf: „Tausend Grüße für die Revolution unserer ägyptischen Brüder“, heißt es da auf Arabisch. Man sieht hier die Revolution in Ägypten nicht als von „Twitter“, sondern als von den Muslimbrüdern getragen.
Der Gottesdienst ist zu Ende, Massen von Männern strömen aus der Moschee. Als einer der ersten erscheint ein hagerer Mann mit Bart und weißer Kappe. Immer wieder ruft er auf Arabisch: „Es gibt keinen Gott außer Gott!“ Andere stimmen ein, dann brechen „Gott ist Groß“-Rufe aus. Die Teilnehmer werden über Lautsprecher ermahnt, sich in Reihen zu ordnen. Es sind geschätzte dreitausend Männer, vor allem Händler vom großen Basar und den umliegenden Gassen sowie Bewohner des nahen Çarşamba-Viertels, die für ihre Strenggläubigkeit bekannt sind.
Ruf nach Eroberung Jerusalems
Ton und Stimmung werden immer aggressiver. Mubarak wird einmal als Puppe der USA, einmal als Puppe Israels bezeichnet. Eine weltweite Intifada und die Eroberung Jerusalems werden gefordert. Ein Sprecher prophezeit, dass sich am Feuer der Revolution alle Kollaborateure Israels verbrennen werden. Das zielt wohl indirekt auf Erdoğan, der den Radikalen im eigenen Land in seiner Haltung gegenüber Israel noch immer zu lasch ist.
Schließlich hält ein Vertreter der ägyptischen Muslimbrüder mit sich überschlagender Stimme eine Philippika gegen Mubarak und mehr noch gegen die USA und Israel. Viele hier glauben, dass nun die große Stunde des Islamismus in der Weltgeschichte gekommen sei.
Was wird aus dem Laizismus?
Staat und Gesellschaft der Türkei sind den Systemen der Nachbarländer sicher vorzuziehen. Doch exportieren kann man nur ein System, das man auch selbst weiter benutzen will. Doch das türkische rutscht gerade in eine unbestimmte Umbruchphase. Eine neue Verfassung soll es geben, möglicherweise ein Präsidialsystem. Was aus dem Markenzeichen von Atatürks Staat, dem Laizismus wird, ist ungewiss.
Das türkische als Exportmodell? Auf dem Platz vor der Beyazit-Moschee kann man sich nicht ganz des umgekehrten Eindrucks erwehren: Dass der Geist des Islamismus, der im Zug der Revolutionen in der arabischen Welt wieder erwacht, Einzug in eine neue türkische Verfassung halten könnte.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.02.2011)