"Vierte Demokratiesierungswelle" in arabischen Welt?

(c) EPA (YAHYA ARHAB)
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Die Proteste und Bilder aus Ägypten, Tunesien, Jemen und anderen Ländern der Nahost-Region erinnern an ähnliche weltweite Freiheitsbewegungen der letzten Jahrzehnte: Jedoch mündeten nicht alle in Demokratien.

Millionen Menschen auf den Straßen, die „Freiheit, Freiheit“ skandieren. Jugendliche, die über das Internet Aufstände gegen arabische Diktatoren organisieren – und damit ihr Leben riskieren. Despoten, die mit Gewalteinsätzen an der Macht festhalten. Ist das der arabische Frühling, der den Nahen Osten politisch für immer verändern wird? Erwacht nun auch die Zivilgesellschaft zwischen Tunis und Sanaa?

Die Bilder aus Ägypten, Tunesien, Jemen und anderen Ländern der Region wecken jedenfalls Erinnerungen an ähnliche „Revolutionen“, die in den letzten Jahrzehnten in anderen Teilen der Welt. stattgefunden haben. Nicht immer mündeten diese in Demokratien.

Dabei war noch vor Kurzem der Optimismus groß: Um die Jahrtausendwende herrschte eine regelrechte „Demokratie-Euphorie“. Kein Wunder, denn die „Befreiung“ erfolgte in „regionalen Wellen“: Nachdem in den 1970er- Jahren die letzten westeuropäischen Regimes in Spanien, Griechenland und Portugal gefallen waren, setzte sich der Trend weltweit fort. In den 1980er-Jahren verscheuchte der Druck der Straße brutale Militärdespoten in Lateinamerika. Danach erfasste die Freiheitswelle Asien: Die „People Power“-Revolution von 1986 gegen das Marcos-Regime auf den Philippinen inspirierte die Menschen in Südkorea, Taiwan, später Indonesien.

Schließlich war der Ostblock an der Reihe. Demonstranten führten zum Fall der KP-Regimes Europas und zum Kollaps der Sowjetunion. 1989 ging in das kollektive Gedächtnis als Triumph-Jahr für liberale Demokratien ein.

Die Blütejahre der Demokratie

Das Ende des Kalten Krieges – und der Aufteilung der Welt in West und Ost – brachten den Wind des Wandels sogar in das als hoffnungslos geltende Afrika: Namibia machte 1990 den Anfang, dann breitete sich die Demokratie auf dem ganzen Kontinent aus. Von 1990–1997 fanden erstmals in der Geschichte des „Schwarzen Kontinents“ mehr als 40 (Mehrparteien-)Wahlen statt. Es waren also die Blütejahre der Demokratie: Zwischen 1974 und der Jahrtausendwende hatten mehr als 90 Länder einen „Systemwechsel“ vollbracht, 60 Prozent der Staaten nannten sich eine „Demokratie“. Erstaunlich waren die Parallelen der Freiheitsbewegungen: Meist erfolgte die Veränderung „von unten“, oft ging sie von friedlichen Protesten aus. Ideologien spielten kaum eine Rolle: Ziel war eine pluralistische Demokratie, sprich (freie) Wahlen.

Hingerissen waren US-Intellektuelle. Der Politologe Francis Fukuyama war gar vom „Ende der Geschichte“ überzeugt, kein Kampf der Ideologien könne nun die globale Verbreitung wirtschaftsliberaler Demokratien bremsen. Sein „Lehrer“ Samuel Huntington sprach begeistert von der „dritten Demokratisierungswelle, die beispiellos in der Geschichte der Menschheit ist“ (die ersten beiden ortete er 1828–1926 und 1943–1962). Reichtum verscheucht Tyrannen, lautet verkürzt seine These: Drei Viertel aller autoritären Regimes, die zwischen den 1970er- und 80er-Jahren ein Pro-Kopf-Einkommen zwischen 1000 und 3000 Dollar erreicht haben, seien später gefallen. Wirtschaftswachstum bringe Modernisierung, Bildung, Urbanisierung – und eine fordernde, kritische Mittelklasse. Huntington war aber kein wirtschaftlicher Determinist: Wichtig sei auch das Vorbild anderer Länder in der Region sowie der Einfluss äußerer demokratischer Mächte, etwa der EU und USA. Und freilich die Stabilität des Machtzentrums: Ohne den Reformwillen von König Juan Carlos wäre in Spanien die Geschichte vermutlich anders verlaufen.

Auf den Optimismus der 90er folgte Ernüchterung: Die „Freiheitsexperimente“ brachten nur selten funktionierende Demokratie hervor. Einigermaßen erfolgreich war Osteuropa, wo durch den Druck der EU-Integration Reformen umgesetzt wurden. Doch andere Hoffnungsträger enttäuschten. Von Kenia, Nigeria bis hin zu den Philippinen, Thailand oder Venezuela: Unter dem Deckmantel pseudopluralistischer Systeme mit oft manipulierten Wahlen herrschten Despoten, die ihre Macht nützten, um sich selbst und ihre Klientel zu bereichern. Schreckensbild für den Westen – weil mögliches Vorbild für die arabische Welt – wurde der Iran: Die Revolution von 1979 mündete in ein fundamentalistisches Regime, das sich durch Wahlen bestätigt. Aber auch in Russland und den anderen Ex-Sowjetrepubliken etablierten sich autoritäre Herrschaften – nicht selten mit Unterstützung desillusionierter Wähler.

„It's the government, stupid“

Wahlen oder ein Multiparteiensystem allein machen also noch lange keine „reife“ Demokratie aus, argumentiert US-Starpolitologe Fareed Zakaria. Zentral seien vielmehr liberale Grundwerte, der Schutz des Individuums oder ein funktionierender Rechtsstaat. In Westeuropa hätte der „Verfassungs-Liberalismus“ hunderte Jahre vor Einführung des allgemeinen Wahlrechts bestanden. Zakarias Fazit: Freie Wahlen allein bringen „unfreie Demokratien“ hervor.

Ähnlich sieht das US-Politologe Larry Diamond: „Demokratisierung“ ohne Freiheit und Kontrollinstanzen schaffe „Räuberstaaten“. Und diese brächten „Räubergesellschaften“ hervor. Gehe es um Demokratisierung, müsse man eben das Zitat Bill Clintons etwas umformulieren: „It's the government, stupid.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.02.2011)

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